Schuldfähigkeitsbegutachtung im Strafrecht
Fragen des freien Willens, der Determiniertheit des Handelns und damit auch der Verantwortlichkeit eines Menschen für seine Taten sind in den letzten Jahren durch die enormen Fortschritte der Neurowissenschaften wieder in den Blickpunkt gerückt. Zeitweise waren damit Vorstellungen verbunden, dass die rechtlichen Regelungen zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bzw. Schuldfähigkeit im Lichte neuer Erkenntnisse zu verändern seien.
Derartige Debatten haben jedoch für die Praxis der forensisch-psychiatrischen Begutachtung keine wesentliche Bedeutung. Die Tätigkeit des Sachverständigen beruht auf der Voraussetzung, dass Willensfreiheit und damit auch Verantwortlichkeit bestehen.
Allerdings kann das menschliche Vermögen, das Voraussetzung für die Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinne ist, in Ausnahmefällen beeinträchtigt sein oder ganz fehlen. Dies ist vor allem aber dann der Fall, wenn krankhafte Vorgänge die psychischen Funktionen und damit auch die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigen. Ihre gesetzliche Formulierung hat diese Position nach der am 1.1.1975 in Kraft getretenen Strafrechtsreform in § 20 und § 21 des Strafgesetzbuches (StGB) gefunden.
Entsprechend der Systematik dieser beiden Schuldfähigkeitsparagraphen folgt das praktische Vorgehen bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung einem zweischrittigen Vorgehen:
• Auf einer ersten, psychopathologischen Ebene ist zunächst zu prüfen, ob eine relevante psychische Störung vorliegt. Hierbei stehen in der Gesetzesformulierung leider noch antiquierte und teilweise pejorative Begriffe: Die krankhafte seelische Störung für die psychischen Erkrankungen im engeren Sinne, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung für Ausnahmezustände in Folge hochgradiger affektiver Erregung, der Schwachsinn und schließlich die so genannte schwere andere seelische Abartigkeit, ein besonders unschöner Gesetzesbegriff, der die Persönlichkeitsstörungen, süchtiges Verhalten und sexuelle Deviationen umfasst.
• Erst wenn auf der ersten Untersuchungsebene eine relevante psychische Störung diagnostiziert und einem der juristischen Krankheitsbegriffe zugeordnet ist, erfolgt die Prüfung auf der zweiten Untersuchungsebene. Hier geht es darum, ob zum Tatzeitpunkt als Folge der festgestellten psychischen Störung entweder das Vermögen zur Unrechtseinsicht gefehlt hat oder ob das Vermögen zur Einsicht gemäß Handlungssteuerung gravierend beeinträchtigt bzw. aufgehoben war. Dabei obliegt die Entscheidung über das Vorliegen der genannten Voraussetzungen nicht dem Sachverständigen, sondern dem Gericht, doch ist dieses für die Beurteilung auf die sachverständigen Feststellungen des Gutachters angewiesen.
Als Kernkategorien und Höhenmarke für Zustände eindeutiger Schuldunfähigkeit gelten die schweren Formen psychischer Störungen, die früher als „Verrücktheit“ oder „Geisteskrankheit“ bezeichnet wurden und heute in die Gruppe der psychotischen Erkrankungen, der Demenz und des hochgradigen Schwachsinns fallen. Die Orientierung am Prinzip des sogenannten psychopathologischen Referenzsystems erlaubt einen Vergleich und eine Graduierung der Schweregrade aller psychischen Störungen, die von Relevanz für die Schuldfähigkeitsfrage sind.
Begutachtung der Einschränkung der freien Willensbestimmung im Zivilrecht
Ähnlich wie bei der Begutachtung im Strafrecht spielen auch in Zivilrecht die Einschränkungen der freien Willensbestimmung durch psychische Krankheit eine zentrale Rolle. Dabei ist der Krankheitsbegriff wie auch der Begriff der freien Willensbestimmung in diesem Bereich weniger durch die medizinischen Begrifflichkeit als vielmehr durch ein spezielles zivilrechtliches Verständnis festgelegt. Für den zivilrechtlichen Zusammenhang ist es zwar wichtig, eine zutreffende medizinische Diagnose in Anlehnung an die eingeführten Klassifikationssysteme zu stellen, aber weder diese noch die verschiedenen biologischen und ätiologischen Krankheitsdefinitionen der Psychiatrie sind entscheidend für die Frage, ob der rechtlich vorgegebene Krankheitsbegriff erfüllt ist.
„Krankheitswert“ im rechtlichen Sinne kommt für alle solchen psychischen Störungen in Betracht, die im Hinblick auf die Möglichkeit des Ausschlusses der freien Willensbestimmung denjenigen Störungen gleichwertig sind, an deren krankhaftem Charakter in der psychiatrischen Wissenschaft kein Zweifel besteht.
• So ist der erste Prüfungsschritt ein diagnostischer, wobei es um die Frage geht, ob zum relevanten Zeitpunkt, z.B. bei Abschluss eines Vertrages oder bei der Errichtung eines Testaments, eine geistige Störung vorgelegen hat.
• Wenn dies der Fall war, besteht der zweite Prüfungsschritt in der Klärung, ob und auf welche Weise diese Störung die psychischen Funktionen, die für eine freie Willensbestimmung erforderlich sind, außer Kraft gesetzt hat.
Maßgeblich für Geschäfts- und Testierunfähigkeit sind gravierende psychische Störungen wie Psychosen, erheblicher Schwachsinn, Demenz und paranoide Syndrome. Beispielsweise können schwere depressive oder auch manische Auslenkungen der Affektivität die Wertorientierung erheblich verändern, etwa im Sinne einer Überbetonung pessimistisch-negativistischer oder auch optimistisch-impulsiver Akzentsetzungen bei der Interpretation von aktueller Situation und Biographie.
In der Regel nicht in einen Zustand mit Aufhebung der freien Willensbestimmung führen dagegen die vergleichsweise leichteren psychischen Beeinträchtigungen bei neurotischen und Belastungsstörungen oder Substanzmissbrauch, ferner Impulskontrollstörungen und Spielsucht. Schließlich geht es darum, ob auf der Basis des Verfügens über die genannten Funktionen zielgerichtete Entscheidungen und ihre Umsetzung in der Realität möglich sind.
Besonders wichtig ist dabei aus psychopathologischer Sicht, ob bei den Betroffenen aufgrund der psychischen Störungen eine Unterbrechung von Sinnkontinuität und biographischer Lernerfahrung vorliegt. Hier liegt die Entscheidung beim Gericht, während der Sachverständige eine anschauliche und nachvollziehbare Beschreibung der Funktionsstörungen und ihrer Auswirkungen auf Urteilsfähigkeit und Entscheidungsbildung leisten soll.
Gerd-Marko Ostendorf, Wiesbaden
Fragen des freien Willens, der Determiniertheit des Handelns und damit auch der Verantwortlichkeit eines Menschen für seine Taten sind in den letzten Jahren durch die enormen Fortschritte der Neurowissenschaften wieder in den Blickpunkt gerückt. Zeitweise waren damit Vorstellungen verbunden, dass die rechtlichen Regelungen zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bzw. Schuldfähigkeit im Lichte neuer Erkenntnisse zu verändern seien.
Derartige Debatten haben jedoch für die Praxis der forensisch-psychiatrischen Begutachtung keine wesentliche Bedeutung. Die Tätigkeit des Sachverständigen beruht auf der Voraussetzung, dass Willensfreiheit und damit auch Verantwortlichkeit bestehen.
Allerdings kann das menschliche Vermögen, das Voraussetzung für die Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinne ist, in Ausnahmefällen beeinträchtigt sein oder ganz fehlen. Dies ist vor allem aber dann der Fall, wenn krankhafte Vorgänge die psychischen Funktionen und damit auch die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigen. Ihre gesetzliche Formulierung hat diese Position nach der am 1.1.1975 in Kraft getretenen Strafrechtsreform in § 20 und § 21 des Strafgesetzbuches (StGB) gefunden.
Entsprechend der Systematik dieser beiden Schuldfähigkeitsparagraphen folgt das praktische Vorgehen bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung einem zweischrittigen Vorgehen:
• Auf einer ersten, psychopathologischen Ebene ist zunächst zu prüfen, ob eine relevante psychische Störung vorliegt. Hierbei stehen in der Gesetzesformulierung leider noch antiquierte und teilweise pejorative Begriffe: Die krankhafte seelische Störung für die psychischen Erkrankungen im engeren Sinne, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung für Ausnahmezustände in Folge hochgradiger affektiver Erregung, der Schwachsinn und schließlich die so genannte schwere andere seelische Abartigkeit, ein besonders unschöner Gesetzesbegriff, der die Persönlichkeitsstörungen, süchtiges Verhalten und sexuelle Deviationen umfasst.
• Erst wenn auf der ersten Untersuchungsebene eine relevante psychische Störung diagnostiziert und einem der juristischen Krankheitsbegriffe zugeordnet ist, erfolgt die Prüfung auf der zweiten Untersuchungsebene. Hier geht es darum, ob zum Tatzeitpunkt als Folge der festgestellten psychischen Störung entweder das Vermögen zur Unrechtseinsicht gefehlt hat oder ob das Vermögen zur Einsicht gemäß Handlungssteuerung gravierend beeinträchtigt bzw. aufgehoben war. Dabei obliegt die Entscheidung über das Vorliegen der genannten Voraussetzungen nicht dem Sachverständigen, sondern dem Gericht, doch ist dieses für die Beurteilung auf die sachverständigen Feststellungen des Gutachters angewiesen.
Als Kernkategorien und Höhenmarke für Zustände eindeutiger Schuldunfähigkeit gelten die schweren Formen psychischer Störungen, die früher als „Verrücktheit“ oder „Geisteskrankheit“ bezeichnet wurden und heute in die Gruppe der psychotischen Erkrankungen, der Demenz und des hochgradigen Schwachsinns fallen. Die Orientierung am Prinzip des sogenannten psychopathologischen Referenzsystems erlaubt einen Vergleich und eine Graduierung der Schweregrade aller psychischen Störungen, die von Relevanz für die Schuldfähigkeitsfrage sind.
Begutachtung der Einschränkung der freien Willensbestimmung im Zivilrecht
Ähnlich wie bei der Begutachtung im Strafrecht spielen auch in Zivilrecht die Einschränkungen der freien Willensbestimmung durch psychische Krankheit eine zentrale Rolle. Dabei ist der Krankheitsbegriff wie auch der Begriff der freien Willensbestimmung in diesem Bereich weniger durch die medizinischen Begrifflichkeit als vielmehr durch ein spezielles zivilrechtliches Verständnis festgelegt. Für den zivilrechtlichen Zusammenhang ist es zwar wichtig, eine zutreffende medizinische Diagnose in Anlehnung an die eingeführten Klassifikationssysteme zu stellen, aber weder diese noch die verschiedenen biologischen und ätiologischen Krankheitsdefinitionen der Psychiatrie sind entscheidend für die Frage, ob der rechtlich vorgegebene Krankheitsbegriff erfüllt ist.
„Krankheitswert“ im rechtlichen Sinne kommt für alle solchen psychischen Störungen in Betracht, die im Hinblick auf die Möglichkeit des Ausschlusses der freien Willensbestimmung denjenigen Störungen gleichwertig sind, an deren krankhaftem Charakter in der psychiatrischen Wissenschaft kein Zweifel besteht.
• So ist der erste Prüfungsschritt ein diagnostischer, wobei es um die Frage geht, ob zum relevanten Zeitpunkt, z.B. bei Abschluss eines Vertrages oder bei der Errichtung eines Testaments, eine geistige Störung vorgelegen hat.
• Wenn dies der Fall war, besteht der zweite Prüfungsschritt in der Klärung, ob und auf welche Weise diese Störung die psychischen Funktionen, die für eine freie Willensbestimmung erforderlich sind, außer Kraft gesetzt hat.
Maßgeblich für Geschäfts- und Testierunfähigkeit sind gravierende psychische Störungen wie Psychosen, erheblicher Schwachsinn, Demenz und paranoide Syndrome. Beispielsweise können schwere depressive oder auch manische Auslenkungen der Affektivität die Wertorientierung erheblich verändern, etwa im Sinne einer Überbetonung pessimistisch-negativistischer oder auch optimistisch-impulsiver Akzentsetzungen bei der Interpretation von aktueller Situation und Biographie.
In der Regel nicht in einen Zustand mit Aufhebung der freien Willensbestimmung führen dagegen die vergleichsweise leichteren psychischen Beeinträchtigungen bei neurotischen und Belastungsstörungen oder Substanzmissbrauch, ferner Impulskontrollstörungen und Spielsucht. Schließlich geht es darum, ob auf der Basis des Verfügens über die genannten Funktionen zielgerichtete Entscheidungen und ihre Umsetzung in der Realität möglich sind.
Besonders wichtig ist dabei aus psychopathologischer Sicht, ob bei den Betroffenen aufgrund der psychischen Störungen eine Unterbrechung von Sinnkontinuität und biographischer Lernerfahrung vorliegt. Hier liegt die Entscheidung beim Gericht, während der Sachverständige eine anschauliche und nachvollziehbare Beschreibung der Funktionsstörungen und ihrer Auswirkungen auf Urteilsfähigkeit und Entscheidungsbildung leisten soll.
Gerd-Marko Ostendorf, Wiesbaden