Einleitend verweist sie auf Untersuchungen, nach denen Richter sich in bis zu 90 % bzw. bis zu 97 % der Fälle dem Standpunkt des Gerichtssachverständigen anschlossen. Dieser habe somit die Macht, über den Ausgang des Verfahrens zu bestimmen; man könnte sagen, der Arzthaftungsprozess stehe und falle mit dem Gerichtssachverständigen und seinen Feststellungen. Habe er das Gericht falsch beraten, falle das Urteil entsprechend aus.
Das Gericht steht im Spannungsfeld zwischen der nahezu regelmäßig fehlenden medizinischen Sachkunde und der daraus erwachsenden Notwendigkeit, sich sachverständiger Hilfe zu bedienen, sowie der Aufgabe, die sachverständige Begutachtung (trotz fehlender Sachkunde) kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen. Ein Richter, der namentlich nicht genannt werden will, bemerkt dazu: „Natürlich haben Sachverständige eine immense Machtposition. … Gern verstecken sich Richter hinter Gutachtern“, zitiert Scholz.
Bei der Frage, ob gegen den zum Zeitpunkt der medizinischen Behandlung geltenden Facharztstandard verstoßen wurde, handelt es sich um die zentrale Frage des Arzthaftungsprozesses. Eine Haftung kommt in Betracht, wenn die ärztliche Behandlung hinter dem Standard zurückbleibt. Ein Arzthaftungsprozess ist ohne medizinisches Gutachten jedoch nahezu undenkbar.
Eine häufige Fehlerquelle in Gutachten liegt darin, dass sich der Kausalitätsbegriff der Juristen grundlegend von dem der Mediziner unterscheidet, erklärt Scholz weiter. Während der Mediziner einen naturwissenschaftlichen Beweis zu erbringen versucht und eine absolute oder unumstößliche Gewissheit und an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für erforderlich erachtet, begnügt sich der Jurist für den Strengbeweis nach § 286 ZPO mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.
Der Frage nach der Kausalität ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen, wenn der Patient vorgeschädigt ist. Nicht selten wird im Prozess übersehen, dass es für die Haftung des behandelnden Arztes genügt, wenn der Gesundheitsschaden durch einen Fehler mitverursacht wurde.
Eine weitere häufige Fehlerquelle in Gerichtsgutachten ist, das der Sachverständige zwischen objektivem und subjektivem Sorgfaltsmaßstab nicht zu unterscheiden weiß. Leider kommt es nicht selten vor, so Scholz, dass sich deshalb ein „individueller“ Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe des Gutachters einen Weg in den Arzthaftungsprozess bahnt.
Der Bundesgerichtshof stellt jedoch klar, dass auch im Arzthaftungsrecht nur der objektivierte zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff gilt. Das bedeutet, dass selbst wenn der Fehler menschlich gesehen verständlich erscheint (weil er beispielsweise darauf zurückzuführen ist, dass der Arzt krankheitsbedingt hinter seinen sonst vorhandenen fachärztlichen Möglichkeiten zurückbleibt), ein Abweichen vom Facharztstandard und damit ein Behandlungsfehler vorliegt. Es darf also „verständlich“ nicht mit „verzeihlich“ verwechselt werden, erklärt die Juristin.
Der Richter hat das Gerichtsgutachten und die Äußerungen des Gerichtssachverständigen kritisch auf ihre Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen. Zu beobachten ist gelegentlich, dass dem beklagten Kollegen vom Gerichtssachverständigen ein Zuviel an „kollegialem Verständnis“ entgegengebracht wird, worauf der Bundesgerichtshof die Tatrichter 2008 zu Recht aufmerksam gemacht hat.
Vermag die sachverständige Stellungnahme den Richter nicht zu überzeugen, so ist es ihm im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung erlaubt, vom Gerichtsgutachten abzuweichen. Der Richter muss jedoch in diesem Fall die eigene medizinische Sachkunde nachweisen, forderte der Bundesgerichtshof wiederholt seit vielen Jahren, wobei die hierfür maßgeblichen Erwägungen im Sinne einer einleuchtenden und nachvollziehbaren Begründung im Urteil darzulegen sind. Fehlt die eigene Sachkunde, so hat das Gericht sich zuvor anderweitig um eine sachverständige Beratung zu bemühen.
Zwar ist jeder (approbierte) Arzt zur gerichtlichen Gutachtenerstattung berechtigt, doch nicht jeder gute Arzt ist auch ein guter Sachverständiger. An die Auswahl der Sachverständigen sollten deshalb über die Approbation hinaus besondere Anforderungen gestellt werden, fordert Scholz.
Vorauszusetzen sind etwa überdurchschnittliche praktische Fähigkeiten und wissenschaftliches Wissen. Der Sachverständige sollte zudem auch die (verschiedenen) wissenschaftlichen Lehrmeinungen zu bestimmten Behandlungsmaßnahmen kennen und differenziert – dabei unvoreingenommen – darstellen können. Diese Maxime gilt insbesondere bei einem bestehenden Schulenstreit.
Das juristische Denken muss dem Gerichtssachverständigen vertraut sein, um die zum Teil recht hypothetischen Fragestellungen zu beantworten. In seinem Gutachten hat sich der Gerichtssachverständige zu stützen auf
- einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse,
- Leitlinien und Richtlinien,
- Fachliteratur und
- die für jeden Facharzt des einschlägigen Faches geltenden Handlungsdirektiven, somit die medizinischen Grundregeln.
Dabei hat er den Zeitpunkt der streitgegenständlichen Behandlung zu beachten.
Auch wird vom Gerichtssachverständigen gefordert, dass er seine Bewertung des Sachverhalts durch allgemeingültige Standards und Literaturangaben belegt. Das berücksichtigen aber nicht alle Sachverständigen, kritisiert Scholz.
Der Gerichtssachverständige hat sich mit sämtlichen von Arzt- und Patientenseite vorgelegten medizinischen Unterlagen sowie mit (Privat-)Gutachten auseinanderzusetzen. Ferner gehört es auch zu seiner Aufgabe, die zum Teil sehr konträren Darstellungen der Parteien zu berücksichtigen.
Die Ladung des Gerichtssachverständigen zur ergänzenden mündlichen Erläuterung seines Gutachtens ist ein probates Mittel zur Sachverhaltsaufklärung. Je aufgeschlossener sich der Gerichtssachverständige gegenüber den Vorbehalten und Fragen aller Verfahrensbeteiligten zeigt, desto schneller und erfolgreicher klären diese sich.
Die sich an die Befragung anschließenden Fragen der Parteien verlangen dem Gerichtssachverständigen allerdings eine neue, unvoreingenommene Betrachtung des gleichen medizinischen Geschehens (und damit viel Flexibilität) ab, die manch ein Gerichtssachverständiger im Anschluss an die gerichtliche Befragung nicht mehr leisten kann oder möchte. Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig, erklärt Scholz:
Es kann sein, dass der Gerichtssachverständige sich bereits im Rahmen der Befragung durch das Gericht so festgelegt hat, dass eine andere Betrachtungsweise unmöglich wird oder er dem Fragerecht der Parteien – irrtümlich – eine geringere prozessuale Bedeutung beimisst. Es mutet bisweilen an, als befände sich der Gerichtssachverständige unwiederbringlich auf einem gänzlich anderen gedanklichen „Gleis“, was seine Befragung sehr mühsam gestaltet, so die Juristin.
Hier ist nun das Gericht zusätzlich in der Pflicht, für die Wahrung der Verfahrensrechte der Parteien zu sorgen, indem es dem Gerichtssachverständigen seine Rolle und Pflichten im Verfahren (erneut) verdeutlicht.
Nimmt man den verfassungsrechtlich verankerten Anspruch der Gerichtspartei auf Währung rechtlichen Gehörs ernst, so setzt dies sowohl seitens des Tatrichters als auch des Gerichtssachverständigen eine nach allen Seiten offene sowie unbefangene Betrachtungsweise und Bewertung des medizinischen Geschehens voraus.
Abschließend erklärt Scholz, der Vorstoß derjenigen Landesärztekammern sei zu unterstützen, die ein Gutachtenqualitätsmanagement mit Qualitätskontrolle vorhalten sowie Fortbildungsmöglichkeiten anbieten zum Thema „Aus Fehlern lernen“. Es wäre wünschenswert, wenn zukünftig nur solche Ärzte als Gerichtssachverständigen bestellt würden, die eine Ausbildung zum Sachverständigen absolviert und damit neben den formalen Aspekten der Gutachtenerstattung und ihrer überragenden fachlichen Qualität insbesondere die rechtlichen Aspekte dieser Tätigkeit verinnerlicht haben.
(Scholz, I: Unter die Lupe genommen – der Sachverständigenbeweis im Arzthaftungsprozess. Versicherungsrecht 67 (2016) 10: 625-641)
Gerd-Marko Ostendorf, Wiesbaden