Leitsatz:
Ein psychiatrisches Gutachten ist im Regelfall nicht mehr für die gerichtliche Entscheidungsfindung verwertbar, wenn mehr als ein Jahr zwischen der Untersuchung und der Erstattung des Gutachtens liegt.
Aus den Gründen:
(1–37) Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Verletztenrente aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 11. Dezember 1998 streitig. …
(38) Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch sind § 7, § 8 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 102 und § 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). … Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), das heißt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
(39) Versicherte haben dann gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger Anspruch auf die inzidente Anerkennung einer Unfallfolge, wenn ein Gesundheitsschaden durch den Versicherungsfall rechtlich wesentlich verursacht wird (vgl. zum Folgenden BSG, Urteil vom 5. Juli 2011 – B 2 U 17/10 R – SozR 4-2700 § 11 Nr. 1; so auch zuletzt Urteil des Senats vom 23. Januar 2013 – L 6 U 2741/12). Während der Gesundheitsschaden sicher feststehen muss (Vollbeweis), erfolgt die Prüfung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und dem – hier als Arbeitsunfall anerkannten – Unfallereignis nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. …
(40–49) Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen können die posttraumatische Belastungsstörung, eine Verbitterungsstörung, ein hirnorganisches Psychosyndrom oder eine Anpassungsstörung nicht im erforderlichen Vollbeweis festgestellt werden. …
(50) Soweit Dr. H. als einziger Sachverständiger beim Kläger eine posttraumatische Verbitterungsstörung diagnostiziert hat, die der Kläger selbst bestreitet, hält der Senat bereits sein Gutachten, welches er erst anderthalb Jahre nach der Untersuchung erstattet hat, für nicht verwertbar. Denn gerade bei einem psychiatrischen Gutachten kommt es entscheidend darauf an, dass der Gutachter sich nicht nur einen persönlichen Eindruck in einer angemessenen Untersuchungszeit von dem Kläger verschafft, sondern diesen auch entsprechend für die Beteiligten und das Gericht darlegt. Nach einem so langen Zeitraum ist aber nicht mehr gewährleistet, dass sich der Gutachter überhaupt noch an die Untersuchungsperson erinnert, er kann sich somit allenfalls auf seine schriftlichen Aufzeichnungen stützen, deren Vollständigkeit aber naturgemäß anders als z. B. bei orthopädischen Befunden nicht gewährleistet ist. Das Gutachten kann sich vielmehr nach einem solchen Zeitablauf nicht mehr auf einen genauen aktuellen Eindruck von dem Kläger stützen, der gerade bei einem Praktiker wie dem Sachverständigen, der jeden Tag mit einer Vielzahl von Personen zu tun hat, verblassen muss. Auch bei der Absetzung des vollständigen Urteils hat der Gemein-same Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Beschluss vom 27. April 1993 – GmS-OBG 1/92) darauf abgestellt, dass die Erinnerung mit fortschreitender Zeit nicht mehr gegeben ist, und allenfalls eine Frist von einem Jahr für angemessen erachtet. Des Weiteren handelt es sich bei der posttraumatischen Verbitterungsstörung um keine ICD-10-Diagnose, so dass bereits deswegen ihre Feststellung oder Anerkennung als Unfallfolge nach der Rechtsprechung ausscheidet. …
(51–56) Für ein hirnorganisches Psychosyndrom, wie dies Prof. Dr. M. – ohne dass ihm die Krankenakten vorlagen – vermutet hat, fehlt es am erforderlichen Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung (so auch Bayrisches Landessozialgericht, Urteil vom 20. Juni 2012 L 2 U 340/10), wie dies letztlich alle Sachverständigen übereinstimmend festgestellt und auch die vom SG beigezogenen Behandlungsakten des Klinikums H. über den stationären Aufenthalt vom 11. Dezember 1998 bis 7. Januar 1999 bestätigt haben. Das hat zuletzt auch der Sachverständige Prof. Dr. Dr. W. in Auswertung der Krankenhausunterlagen dargelegt, wonach nicht nur die bildgebenden Schädeluntersuchungen, sondern auch die initialen Befunde keinen entsprechenden Beleg liefern, die später beschriebenen kognitiven Probleme daher mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht durch eine Hirnkontusion bedingt sind. Dafür spricht auch, dass die gezeigten kognitiven Störungen nicht einheitlich waren, sich vielmehr nur auf spezielle Arbeitsbereiche (z. B. Rechnen) bezogen und der Kläger außerhalb der jeweiligen Untersuchungssituation unauffällig war, was erhebliche Zweifel daran begründet, ob das psychopathologische Bild überhaupt auf den Unfall zurückgeführt werden kann, was selbst Prof. Dr. M. so ausführte und insbesondere Prof. Dr. Dr. M. gänzlich und aus Sicht des Senats zutreffend ausschloss. …
Redaktionell überarbeitete Fassung eingereicht von P. Becker, Kassel