Der Bundesgerichtshof (BGH) und Teile der Instanzrechtsprechung stellen für die Prüfung, welches Berufsbild vor Eintritt von Berufsunfähigkeit (in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung) zugrunde zu legen ist, auch dann auf die „ganz gesunden Tage“ vor Beginn der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab, wenn der Versicherte leidensbedingt bereits seit längerer Zeit anders gearbeitet und sich mit dieser Tätigkeit arrangiert hat, kritisiert der Fachanwalt für Versicherungsrecht und Spezialist für Berufsunfähigkeitsversicherung Kai-Jochen Neuhaus in der Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“.
So erklärte das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt mit Urteil vom 18.11.2022 (AZ: 7 U 113/20; vgl. „Versicherungsrecht“ Heft 2/2023, S. 95-99), dass zunehmende Einschränkungen der Berufstätigkeit bei dem erforderlichen Vergleich der aktuellen Berufsfähigkeit mit derjenigen in gesunden Tagen auch dann unberücksichtigt zu bleiben haben, wenn sie nicht nachweislich ausschließlich leidensbedingt erfolgt sind.
In den Fällen eines langsam fortschreitenden Leidensprozesses oder Kräfteverfalls würde häufig der Versicherungsfall nicht eintreten, obwohl die Beeinträchtigung des Versicherten, gemessen an seiner Leistungsfähigkeit in gesunden Tagen, 50 % längst erreicht oder gar überschritten habe. Da der Versicherungsfall bedingungsgemäß erst mit dem Erreichen eines bestimmten Grades von Berufsunfähigkeit eintrete, sei die Heranziehung eines Vergleichszustandes für die Ermittlung des maßgeblichen Grades unerlässlich, argumentierten die Frankfurter Richter. Dass der Versicherungsschutz für den Beruf in gesunden Tagen einer zeitlichen Grenze unterliegen könnte, sei für die versicherte Person bei verständiger Würdigung der Bedingungen nicht erkennbar; eine solche einschränkende Regelung sei in den hier maßgeblichen Bedingungen nicht enthalten (mit Hinweis auf den BGH, Urteil vom 14.12.2016; IV ZR 527/15).
Im Klageverfahren muss für das Gericht jedoch klar sein (bzw. muss vom Gericht klargestellt werden), auf welche konkrete berufliche Tätigkeit abzustellen ist, erklärt Neuhaus: Denn nur dann können dem medizinischen Sachverständigen die für ihn erforderlichen klaren Vorgaben zum Beruf gemacht werden. Im Gerichtsverfahren muss das Tätigkeitsbild vollständig und als für den Sachverständigen unverrückbarer Sachverhalt feststehen.
In der Praxis bedeutet das, dass das Gericht dem Sachverständigen ganz konkrete Vorgaben dazu zu machen hat, was der Beruf des Versicherten ist und was der Sachverständige zugrunde legen darf. Hintergrund ist, dass die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ohne eine Darlegung der genauen beruflichen Tätigkeiten unmöglich ist, weil geprüft werden muss, wie sich die individuellen Beschwerden des Versicherten auf dessen individuelle Berufsausübung ausgewirkt haben.
Eigene Ermittlungen des gerichtlichen medizinischen Sachverständigen zu außermedizinischen Anknüpfungstatsachen (etwa die Exploration von Teiltätigkeiten in der Arbeitsanamnese) sind deshalb unzulässig, betont Neuhaus.
Neuhaus, K.-J. (2023). Die „gesunden Tage“ in der Berufsunfähigkeitsversicherung. Versicherungsrecht, 9, 563-568.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden