Chronischer Schmerz wird zu einer eigenständigen bio-psycho-sozialen Erkrankung. Er korreliert in seiner Intensität nicht mehr mit dem auslösenden Reiz und hat seine ursprüngliche Warn- und Schutzfunktion verloren. Chronischer Schmerz erfordert oft interdisziplinäres, multimodales Vorgehen und stellt nicht nur therapeutisch, sondern auch gutachtlich eine besondere Herausforderung dar.
In der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“ wird eine schmerzmedizinische Begutachtung bei folgenden Konstellationen empfohlen:
· Chronisch primäre Schmerzen (nach ICD-11), soweit der Befund nicht klar in das psychiatrische/psychosomatische Fachgebiet gehört.
· Chronisch sekundäre Schmerzen (nach ICD-11), soweit der körperliche Befund das Schmerzerleben nicht ausreichend erklärt.
Dabei stellt die Beschwerdenvalidierung, d. h. die Klärung der Frage, ob und inwieweit die geklagten Beschwerden, Funktionsbeeinträchtigungen sowie Einschränkungen in Aktivität und Teilhabe tatsächlich auch bestehen, eine wesentliche Kernaufgabe der ärztlichen Begutachtung dar.
Häufig wird ein Chronifizierungsgrad III im Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen als „Beweis“ für das Vorliegen ausgeprägter schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen angesehen. Das ist aus gutachtlicher Sicht jedoch problematisch, da dieser Chronifizierungsgrad nach Gerbershagen kaum veränderlich ist.
Bei der Beurteilung schmerzbedingter Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit, etwa für die private Krankentagegeldversicherung (Sparte Private Krankenversicherung), sind vom medizinischen Gutachter im Allgemeinen drei Fragen zu beantworten:
Welche Gesundheitsstörungen lassen sich „ohne vernünftigen Zweifel“ (sog. „Vollbeweis“) nachweisen? Welche hieraus resultierenden, länger anhaltenden Funktionsbeeinträchtigungen mit Einschränkungen in Aktivität und Teilhabe lassen sich „ohne vernünftigen Zweifel“ nachweisen? Welche Prognose („Überwindbarkeit durch eigene Willensanstrengung und/oder durch ärztliche Maßnahmen“) haben die nachweisbaren Beeinträchtigungen? D. h. welche Kontextfaktoren nehmen auf die Prognose Einfluss?
Schließlich hat der Gutachter Stellung zu nehmen zur Frage, ob und aufgrund welcher Befunde er selbst anhand der Zusammenschau von Exploration, Untersuchung, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage davon überzeugt ist, dass die anamnestisch erfassten Einschränkungen quantitative und/oder qualitative Leistungseinschränkungen begründen. Einen Grundsatz des „in dubio pro aegroto" („im Zweifel für den Kranken“) bei der Begutachtung gibt es nicht, betonen die Autoren der Leitlinie.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden