Spätestens ab einem BMI über 50 kg/m2 bestehe sogar eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff. „Wir müssen umdenken und endlich eine flächendeckende bedarfs- und leitliniengerechte Versorgung von Patient:innen mit hochgradiger Adipositas ermöglichen. Die Adipositaschirurgie muss von allen Krankenkassen als evidenzbasierter Therapiestandard akzeptiert werden“, kommentiert BVMed-Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Dr. Marc-Pierre Möll. Das Gutachten kann unter www.bvmed.de/gutachten-adipositaschirurgie heruntergeladen werden.
Wie es in der Pressemeldung des BVMed weiter hieß, stellt die Adipositaschirurgie derzeit die effektivste Behandlungsmethode mit der breitesten Evidenzlage für Patient:innen mit hochgradiger Adipositaserkrankung dar. Dennoch wird die Adipositaschirurgie von vielen Krankenkassen immer noch nicht als Regelleistung akzeptiert und unter Genehmigungsvorbehalt gestellt. Dabei wird von den Krankenkassen ein vorheriger Kostenübernahmeantrag gefordert oder bisher abgerechnete Fälle werden rückwirkend vom Medizinischen Dienstes Bund der Krankenkassen (MDS) hinsichtlich der „Ultima Ratio“ überprüft.
Die Genehmigungspraxis der gesetzlichen Krankenkassen führt dazu, dass Leistungen der bariatrischen Chirurgie in Deutschland mit 27,5 Operationen pro 100.000 Erwachsene (2020) im internationalen Vergleich deutlich seltener erbracht werden (beispielsweise Frankreich 76,9, Niederlande 91,8, Schweiz 71,3). Das geht unter anderem auf das vom Bundessozialgericht im Jahr 2003 aufgestellte „Ultima Ratio“-Prinzip zurück. Somit findet in Deutschland heutzutage keine flächendeckende, leitlinien- und bedarfsgerechte Versorgung der Patient:innen mit hochgradiger Adipositas statt. Zudem gibt es große regionale Versorgungsunterschiede innerhalb Deutschlands (beispielsweise Hamburg/Schleswig-Holstein 32,4; Nordrhein-Westfalen 28,6; Bayern 12,6; Rheinland-Pfalz 8,9).
Die Praxis der Krankenkassen wurde durch den renommierten Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Stefan Huster, der auch Mitglied der neuen Krankenhausreform-Kommission des Bundesgesundheitsministeriums ist, sowie den Adipositas-Experten Prof. Dr. Arya Sharma und Prof. Dr. Mirko Otto im Rahmen eines Gutachtens kritisch hinterfragt. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Antragspflicht der Kliniken für die Durchführung eines bariatrischen Eingriffs grundsätzlich nicht bestehe und nicht der Rechtslage entspreche. Das „Ultima Ratio“-Prinzip in der Adipositaschirurgie würde nicht den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand widerspiegeln. Die aktuelle Studienlage belege, dass der zu erwartende Behandlungserfolg bariatrischer Operationen bei hochgradiger Adipositas „vielfach den konservativen Behandlungsmöglichkeiten überlegen ist“, heißt es in dem Gutachten. Die „letzte Möglichkeit“ könne damit sogar die erste Behandlungsmaßnahme sein, „wenn zum Beispiel ein Patient mit einem BMI = 50 kg/m2 in Rede steht. Es sollte daher nicht von einer ‚Ultima Ratio‘, sondern von einer Stufentherapie gesprochen werden“, heißt es in dem Gutachten. Prof. Huster spricht dabei vom „Grundsatz der dynamischen Therapieerschöpfung“.
Kritik übt das Gutachten vor diesem Hintergrund insbesondere am Begutachtungsleitfaden des MDS. Es unterliege einer Fehlinterpretation der Studienlage und gehe irrtümlich und ohne Belege von einer Wirksamkeit konservativer Behandlungsmethoden bei hochgradiger Adipositaserkrankung aus. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft werde dabei nicht adäquat berücksichtigt. Der Begutachtungsleitfaden trage daher zur Streitanfälligkeit des Leistungsbereichs bei „und sollte überarbeitet werden“.
Zum Hintergrund der Adipositaschirurgie in Deutschland heißt es in dem Gutachten:
„Leistungen der bariatrischen Chirurgie sind operative Eingriffe, die insbesondere zu einer Reduktion des Körpergewichts sowie zu einer Verminderung der Adipositas bedingten Gesundheitsstörungen führen sollen. Dazu bestehen verschiedene chirurgische Methoden. In Deutschland wurden 2020 insgesamt 19.088 Operationen durchgeführt, von denen 98 Prozent auf die am weitesten verbreiteten Verfahren Magenbypass und der Schlauchmagen entfielen. Zur Durchführung der Operationen ist in der Regel eine stationäre Aufnahme der Patienten erforderlich. Leistungen der bariatrischen Chirurgie werden in Deutschland mit 27,5 Operationen pro 100.000 Erwachsene im internationalen Vergleich selten erbracht (z. B. Frankreich 76,9, Belgien 141,2), was auf die Genehmigungspraxis der gesetzlichen Krankenkassen zurückgeführt wird. Zudem gibt es große regionale Versorgungsunterschiede innerhalb Deutschlands (z. B. Hamburg/Schleswig-Holstein 32,4; Rheinland-Pfalz 8,9). (…) Für Leistungen der bariatrischen Chirurgie hat sich etabliert, dass Patienten vor Durchführung der Behandlungen die Leistungsgewährung bei ihrer gesetzlichen Krankenversicherung beantragen. Diese Anträge wurden in der Vergangenheit überwiegend abgelehnt und es lassen sich erhebliche regionale Unterschiede in der Bewilligungspraxis feststellen.“
Prof. Dr. Stefan Huster fasst die Ergebnisse des Gutachtens „zum Anspruch auf Leistungen der bariatrischen Chirurgie – Rechtsfragen und ethische Aspekte“ in folgenden sieben Punkte zusammen:
Adipositas ist eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne. Im Rahmen der Leistungsgewährung gelten keine besonderen förmlichen Anforderungen.
Der Leistungsanspruch hängt vom allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab. Bei Adipositas spricht viel dafür, den Magen als Teil des Verdauungssystems als nicht gesund anzusehen. Daher sollte nicht von besonderen Rechtfertigungsanforderungen ausgegangen werden, wie es bei einer nicht-kausalen Therapie der Fall wäre.
Weiterhin wird nach wie vor gefordert, dass bariatrische Operationen nur als „Ultima Ratio“ zur Anwendung kommen. Die aktuelle Rechtsprechung führt diesen Grundsatz auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2003 zurück. Diese Anforderung hat das Bundessozialgericht jedoch nicht selbst entwickelt, sondern den damaligen Leitlinien entnommen. Insoweit ist klarzustellen, dass die aktuelle Rechtsprechung vielfach nicht präzise formuliert ist: Es handelt sich nicht um einen Grundsatz aus der Rechtsprechung, sondern um einen Rückgriff auf den in den Leitlinien abgebildeten fachlichen Standard. Im Rahmen von Leistungsentscheidungen darf daher kein Rückgriff auf starre Grundsätze erfolgen, sondern es ist stets der aktuelle Stand medizin-wissenschaftlicher Erkenntnisse zu berücksichtigen.
Die aktuelle Studienlage belegt, dass der zu erwartende Behandlungserfolg bariatrischer Operationen bei hochgradiger Adipositas vielfach den konservativen Behandlungsmöglichkeiten überlegen ist. Spätestens ab einem BMI ≥ 50 kg/m2 besteht eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff. Starre Anforderungen zur Erschöpfung konservativer Therapien sind daher verfehlt.
Für die aktuellen Leitlinien steht eine Aktualisierung an. Die aktuellen Leitlinien gehen bereits von einem dynamischen Begriff der Therapieerschöpfung aus, sodass kein „Ultima Ratio“-Prinzip gilt, sondern vielmehr gilt der Grundsatz „der dynamischen Therapieerschöpfung“. Die insoweit geltenden Anforderungen werden im Rahmen einer Revision der Leitlinien voraussichtlich präziser gefasst und an die aktuelleren internationalen Leitlinien angeglichen.
Vor diesem Hintergrund ist insbesondere die Kritik am Begutachtungsleitfaden des MDS gerechtfertigt. Der Begutachtungsleitfaden unterliegt einer Fehlinterpretation der Studienlage und geht irrtümlich und ohne Belege von einer Wirksamkeit konservativer Behandlungsmethoden auch bei hochgradiger Adipositas aus. Der Begutachtungsleitfaden trägt daher zur Streitanfälligkeit des Leistungsbereichs bei und sollte überarbeitet werden.
Umfragen belegen, dass Annahmen zum Selbstverschulden in die Versorgungsentscheidungen einfließen. Die Zurechnung der Adipositas zum Selbstverschulden steht nicht im Einklang mit dem in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Solidaritätsprinzip und entspricht auch nicht der Rechtslage. Insofern sollte in Leitlinien und auch im MDS-Begutachtungsleitfaden klargestellt werden, dass Überlegungen zum Selbstverschulden im Rahmen von Leistungsentscheidungen verfehlt sind.