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Kann ein Gericht den Herzinfarkt neu definieren?

Angeblich werden akute Koronarsyndrome umgangssprachlich als Herzinfarkt bezeichnet, weswegen nicht nur der Myokardinfarkt, sondern auch die instabile Angina pectoris unter den Begriff „Herzinfarkt“ falle, so der Tenor eines Beschlusses des Oberlandesgerichts (OLG) Nürnberg vom 15.7.2024 (AZ: 8 U 643/24), über welchen die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ berichtet.

Diese Behauptung ist nun aus medizinischer Sicht ausgesprochen befremdlich. So sind die Begriffe „Herzinfarkt“ und „Myokardinfarkt“ (übersetzt: Herz-Muskel-Infarkt) synonym. Das ist durchaus auch für den verständigen medizinischen Laien erkennbar, wenn er etwa die Definition des Herzinfarktes bei Wikipedia ansieht. Diese beginnt mit folgenden Worten: „Der Herzinfarkt oder (genauer) Herzmuskelinfarkt bzw. Myokardinfarkt, auch Koronarinfarkt genannt ...“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Herz­infarkt)

Der Begriff „Infarkt“ ist (lt. Wikipedia) folgendermaßen definiert: „Ein Infarkt ist ein Gewebsuntergang (Nekrose) infolge einer Sauerstoffunterversorgung (Hypoxie) durch unzureichenden Blutzufluss (Ischämie).“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Infarkt )

Grundlage dieser medizinisch nicht nachvollziehbaren Beurteilung des Gerichts war das von der Erstinstanz eingeholte Gutachten einer Internistin, Nephrologin und Notfallmedizinerin (warum war denn kein Kardiologe bzw. keine Kardiologin mit dem Gutachten beauftragt worden?), die alle ihr vorliegenden Behandlungsunterlagen und Befunde ausgewertet hatte.

Die Sachverständige habe ausgeführt, so das OLG in seiner Begründung, dass der in den Versicherungsbedingungen verwendete Begriff „Herzinfarkt“ in der leitlinienbasierten Medizin nicht bekannt sei, sondern als akutes Koronarsyndrom (ACS) bezeichnet werde. Dieses könne in 3 Hauptkategorien eingeteilt werden: den ST-Hebungs-Myokardinfarkt (STEMI), den Nicht-ST-Hebungs-Myokardinfarkt (NSTEMI) und die instabile Angina pectoris.

Diese Ausführungen der Sachverständigen sind jedoch aus mehrfacher Hinsicht korrekturbedürftig:

  • Der Begriff „Herzinfarkt“ ist in der wissenschaftlichen, leitlinienbasierten Medizin durchaus bekannt und üblich. So gibt es etwa eine Pocket-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (DGK) mit dem Titel: „Therapie des akuten Herzinfarktes bei Patienten mit ST-Streckenhebung (STEMI)“. (https://leitlinien.dgk.org/files/2018_Pocket_Leitlinie_STEMI_Internetve…)
  • Bei der instabilen Angina pectoris handelt es sich eben nicht um einen Infarkt, da es zu keinem Absterben von Herzmuskelgewebe kommt. Verwiesen sei (gerade für medizinische Laien) nochmals auf Wikipedia: „Mit dem Begriff des akuten Koronarsyndroms (englisch acute coronary syndrome, ACS) wird in der Medizin ein Spektrum von Herz-Kreislauf-Erkrankungen umschrieben, die durch den Verschluss oder die hochgradige Verengung eines Herzkranzgefäßes verursacht werden. Es reicht von der instabilen Angina pectoris (UA) bis zu den beiden Hauptformen des Herzinfarkts, dem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und dem ST-Hebungsinfarkt (STEMI).“ https://de.wikipedia.org/wiki/Akutes_Koronarsyndrom)
  • Zudem lag bei dem Versicherten auch nicht ein akutes Koronarsyndrom vor, sondern lediglich eine ST-Strecken-Senkung (im EKG) mit einhergehender Atemnot während der Ergometrie, dazu echokardiographisch eine laterale Hypokinesie als Zeichen einer Minderperfusion des Herzmuskels. Die Diagnose eines Myokardinfarktes (mit nachgewiesenem Schaden am Herzmuskel) konnte nicht gestellt werden, da keine Bestimmung der Herzenzyme erfolgt war, so die Sachverständige. Eine Herzkatheteruntersuchung 8 Tage nach der Ergometrie (was ja eindeutig gegen ein sofort zu behandelndes akutes Koronarsyndrom spricht!) zeigte einen Verschluss der linken Koronararterie.
  • Zusammengefasst ergibt sich somit, dass kein Herzinfarkt und nicht einmal ein akutes Koronarsyndrom im Sinne einer instabilen Angina pectoris nachgewiesen war! Dennoch kam der Senat zu der Überzeugung, bei dem Versicherten sei „eine Krankheit ärztlich festgestellt worden ..., die fachmedizinisch als akutes Koronarsyndrom in Form einer instabilen Angina pectoris bezeichnet“ werde und die „umgangssprachlich als `Herzinfarkt´ verstanden“ werde. Das ist jedoch offensichtlich falsch!

    Somit ist die darauf beruhende Entscheidung des OLG Nürnberg, der Versicherte habe wegen nachgewiesenen Herzinfarktes Anspruch auf Leistungen aus der Restschuldversicherung, ausgesprochen fragwürdig und sachlich nicht nachvollziehbar.

    Versicherungsrecht, 76. Jg., Heft 5/2025, S. 272–275

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden