Zu den typischen Problemen im Zusammenhang mit Sachverständigengutachten in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung (nicht nur) bei psychischen Störungen gehört eine eigenständige Ermittlung der Arbeitsanamnese durch den Gutachter, berichtet der Fachanwalt für Versicherungsrecht Kai-Jochen Neuhaus in der Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“.
So wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) ausdrücklich festgestellt, dass dem zur Frage des Ausmaßes der Berufsunfähigkeit zu beauftragenden ärztlichen Sachverständigen vollständig und als für ihn „unverrückbar feststehender Sachverhalt“ eine konkrete Beschreibung des beruflichen Tätigkeitsbildes vorzugeben ist. Dabei muss bekannt sein, wie das Arbeitsumfeld des Versicherten tatsächlich beschaffen ist und welche konkreten Anforderungen es an ihn stellt. In der Regel hat dies – so die einschlägige Rechtsprechung – nach Art eines „Stundenplans“ zu erfolgen.
Obwohl also klar ist, dass diese „Arbeitsanamnese“ im Prozess vom Gericht vorgegeben wird, kommt es in der Praxis so gut wie immer dazu, dass der Sachverständige im Gespräch mit dem Versicherten Teiltätigkeiten abfragt und dabei meist auch neue Details geschildert bekommt, die er dann seinem Gutachten zugrunde legt, kritisiert Neuhaus. In der (medizinischen) Literatur werde darauf hingewiesen, dass einzelne Positionen in der Arbeitsanamnese – falls erforderlich – nachexploriert werden sollten, weil die Exploration von Teiltätigkeiten ein bewährtes Element in der Arbeitsanamnese sei, was aber nicht so weit gehen solle, dass der Gutachter trotz Arbeitsanamnese Aufklärer des Tätigkeitsprofils im Eigentlichen werde (so T. W. Grömer et al., MedSach (2021) 4, 138-149).
Ein solches Vorgehen ist aber jedenfalls vor Gericht falsch, weil der BGH ja davon ausgeht, dass dem Sachverständigen ein „unverrückbar feststehender Sachverhalt“ vorzugeben ist. Daher dürfen selbst Details nicht nachexploriert werden, zumal gerade diese oft das „Zünglein an der Waage“ des Grades der Berufsunfähigkeit darstellen, erklärt Neuhaus: Der Versicherte (der Kläger) erhalte dadurch etwa die Gelegenheit, zu dramatisieren, indem von ihm belastende Teiltätigkeiten geschildert werden, welche womöglich nicht Gegenstand der vorher erforderlichen Beweisaufnahme zum Beruf gewesen seien. Ein solches Vorgehen verletze den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu Ungunsten des Versicherers und führe faktisch dazu, dass unzulässigerweise streitige Gegenstände wie unstreitige oder bewiesene behandelt werden.
Gutachter sollten daher genau prüfen, ob die Angaben des Versicherten deckungsgleich mit den vorgegebenen Tätigkeiten seien und etwaige Abweichungen im Gutachten kenntlich machen sowie ausführen, ob diese für das Gutachten relevant seien. Damit können das Gericht sowie die Parteien (Kläger/Versicherter und beklagte Versicherung) prüfen, ob dies prozessuale Konsequenzen nach sich ziehen müsse.
Neuhaus, K.-J. (2021) Berufsunfähigkeitsversicherung: Typische Probleme im Zusammenhang mit Sachverständigengutachten zu psychischen Störungen. Versicherungsrecht, 24, 1525-1538.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden