Tenor
Der Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Beklagte dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten für die Erhebung einer Untätigkeitsklage zu erstatten hat.
Der Kläger stellte ursprünglich am 21.12.2020 einen Erstantrag auf die Bewilligung von Pflegeleistungen in Form von Pflegegeld bei der beklagten Pflegekasse. Am 12.01.2021 erfolgte die Begutachtung telefonisch durch den Medizinischen Dienst Hessen, worauf am das Pflegegutachten vom 22.01.2021 erstattet wurde. Demnach sei kein Pflegegrad beim Kläger festzustellen. Mit Bescheid vom 25.01.2021 lehnte die Beklagte die Feststellung eines Pflegegrades und die Gewährung von Pflegeleistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass keine Pflegebedürftigkeit beim Kläger bestünde und die Voraussetzungen zur Feststellung eines Pflegegrades nicht gegeben seien. Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 05.03.2021 Widerspruch ein und stellte hilfsweise einen Überprüfungsantrag. Im Rahmen des Überprüfungsverfahrens beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst mit einer erneuten Begutachtung und informierte hierüber den Kläger mit Schreiben vom 20.07.2021. Der Medizinische Dienst erstatte am 11.01.2022 das Pflegegutachten nach Befunderhebung im digitalen Kontakt durch ein Telefoninterview mit dem Kläger. Demnach bestünde beim Kläger eine Pflegebedürftigkeit nach der Pflegegrad 1 seit dem 01.01.2021. Bei der Auswertung des Gutachtens stellte die Beklagte den Bedarf einer ergänzenden Begutachtung fest und beauftrage den Medizinischen Dienst am 10.02.2022 erneut. Der Medizinische Dienst kam mit weiteren Pflegegutachten vom 09.09.2022 zum gleichen Ergebnis. Mit Bescheid vom 19.09.2021 stellte die Beklagte beim Kläger das Vorliegen der Pflegebedürftigkeit nach Pflegegrad 1 seit dem 01.12.2020 fest.
Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit umfänglicher Begründung am 07.10.2022 Widerspruch ein und begehrte die Feststellung eines höheren Pflegegrades. Mit Schreiben vom 21.10.2022 informierte die Beklagte den Kläger, dass im Rahmen des Widerspruches der Medizinische Dienst mit der erneuten Begutachtung beauftragt worden sei und aufgrund der Corona-Pandemie mit längeren Bearbeitungszeiten zu rechnen sei.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am 16.01.2023 Untätigkeitsklage gerichtet auf die Bescheidung des Widerspruches vom 07.10.2022 beim Sozialgericht Marburg erhoben. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 17.02.2023 durch die Beklagte hat der Kläger mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 20.02.2023 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt.
Der Kläger trägt vor, dass die Beklagte aufgrund des Verstreichens der Bescheidungsfrist von drei Monaten untätig gewesen sei. Die nicht zu rechtfertigende Untätigkeit werde insbesondere dadurch deutlich, dass die Beklagte innerhalb kurzer Zeit nach Erhebung der Untätigkeitsklage in der Lage gewesen sei, den erhobenen Widerspruch zu entscheiden.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Kosten des Verfahrens der Beklagten aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß), den Antrag abzulehnen.
Die Beklagte trägt vor, dass die gerichtsbekannten langen Bearbeitungszeiten beim Medizinischen Dienst Hessen ein zureichender Grund für eine nicht fristgerechte Entscheidung über den klägerischen Widerspruch darstelle und somit keine Untätigkeit ihrerseits vorläge. Auch habe sie den damaligen Verfahrensbevollmächtigten, den jetzigen Prozessbevollmächtigten des Klägers, unverzüglich nach Eingang des Widerspruchs vom weiteren Prozedere und den längeren Bearbeitungszeiten durch den Medizinischen Dienst in Kenntnis gesetzt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.
II.
In der am 20.03.2023 durch Erledigungserklärung beendeten Untätigkeitsklage war gemäß § 193 Abs. 1 S. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch über die Kosten zu entscheiden.
Die Entscheidung über die Kostenerstattung erfolgt nach billigem Ermessen (vgl. BSG, Beschl. v. 18.01.1957 – 6 RKa 7/56, SozR Nr. 3 zu § 193 SGG; Beschl. v. 26.05.1957 – 6 RKa 16/54, SozR Nr. 4 zu § 193 SGG; LSG Hessen, Beschl. v. 10.02.1992 – L 5 B 117/91; Beschl. v. 28.09.0221 – L 14 B 94/97 KR m. w. N.), wobei das Gericht an die Anträge der Beteiligten nicht gebunden ist und die Rechtsgedanken der §§ 91 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) herangezogen werden. Das Gericht hat folglich das Ergebnis des Rechtsstreits, wie er sich im Zeitpunkt der Erledigung darstellt, unter Berücksichtigung des sich aus den Akten ergebenden Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen zu würdigen. Maßgeblich für die Entscheidung sind demnach alle Umstände des Einzelfalls unter Zugrundelegung des aus der Akte ersichtlichen Sach- und Streitstands (vgl. LSG Hessen, Beschl. v. 07.02.2003 – L 12 B 93/02 RJ; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/ Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 193 SGG Rn. 12 ff. m. w. N.).
Dabei kommt im Wesentlichen zwei Bewertungskriterien Bedeutung zu, nämlich den Erfolgsaussichten der Klage zum Zeitpunkt der Erledigung sowie den Gründen für die Klageerhebung und die Erledigung des Rechtsstreits. Es muss mithin neben der Berücksichtigung der Erfolgsaussicht auch darauf abgestellt werden, wer Anlass zum Rechtsstreit gegeben hat. Danach kann es für die zu fällende Kostenentscheidung von entscheidender Bedeutung sein, wen die Verantwortung dafür trifft, dass ein von vornherein vermeidbarer und daher überflüssiger Prozess überhaupt geführt werden musste (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 193 SGG Rn. 12b ff. m. w. N.).
Bei der Anwendung dieser beiden Kriterien ist zu beachten, dass es sich um Abwägungskriterien einer Ermessensentscheidung handelt und beide Kriterien gegenseitig als Korrektur des jeweils anderen dienen. Es kann daher in Betracht kommen, dass, wenn sich die Rechtslage auf Grund einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach der Klageerhebung ändert und nunmehr Erfolgsaussichten der Klage bestehen, dem Beklagten wegen des Überwiegens des Veranlassungs- gegenüber dem Erfolgsgesichtspunkt im Rahmen der Ermessenabwägung keine außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen sind. Dies setzt voraus, dass der zuständige Verwaltungsträger einer tatsächlichen oder rechtlichen Veränderung unverzüglich nach Kenntniserlangung Rechnung trägt (Rechtsgedanke des § 93 ZPO, siehe zum Ganzen etwa LSG Hessen, Beschl. vom 13.05.1996 – L 5 B 64/94, NZS 1997, 48, 48, Juris Rn. 24 ff.; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 193 SGG Rn. 12c m. w. N.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe entspricht es sachgemäßem Ermessen, dass die Beklagte dem Kläger die erforderlichen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten hat.
Zunächst ist die hier erhobene Untätigkeitsklage für den Kläger teilweise erfolgreich gewesen. Er hat sein Klageziel, die Bescheidung des Widerspruchs vom 07.10.2022, eingegangen am 08.10.2022 durch die beklagte Pflegekasse, erreicht. Im Laufe des Klageverfahrens hat die Beklagte den klägerischen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.2023 zurückgewiesen.
Im Falle der erledigten Untätigkeitsklage kommt dem Abwägungselement der Veranlassung der Klageerhebung überwiegende Bedeutung zu. Dies ergibt sich daraus, dass die formalen Voraussetzungen der Zulässigkeit und Begründetheit einer Untätigkeitsklage im Sinne des § 88 SGG bei deren Erhebung regelmäßig vorliegen und daher die Frage der Erfolgsaussichten im Regelfall zu einer nicht ohne Weiteres hinzunehmenden Benachteiligung der Beklagtenseite führen würde. Es ist daher von überwiegender Bedeutung, ob der jeweilige Beklagte durch sein Verhalten unter Beachtung der die Klägerseite treffenden Obliegenheiten Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat. Dies bezieht sich hier auf die Frage einer vorwerfbaren Verzögerung des Widerspruchsverfahrens. Zu prüfen ist, ob der Kläger mit der Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte (Rechtsgedanke des § 161 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung). Das ist der Fall, wenn zu dieser Zeit die Voraussetzungen des § 88 SGG erfüllt waren; die Klage also anfänglich zulässig und begründet war. Dafür muss der Kläger bei der beklagten Widerspruchsbehörde einen Widerspruch erhoben haben, den Letztere sachlich nicht beschieden hat (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 88 SGG Rn. 3). Weiter muss grundsätzlich die Wartefrist des § 88 Abs. 2 SGG ergebnislos verstrichen sein (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 88 SGG 5 ff.). Schließlich darf kein zureichender Grund dafür vorliegen, dass der erhobene Widerspruch noch nicht beschieden worden ist (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/ Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 88 SGG Rn. 7a ff.).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Vorliegend hat die Beklagte ausreichenden Anlass zur Klageerhebung gegeben. Ein zureichender Grund aufgrund der Einholung eines Pflegegutachten durch den Medizinischen Dienst Hessen (MD Hessen) lag bei Klageerhebung nicht vor, da die Beklagte einer Verschleppung des Verfahrens nicht effektiv entgegengewirkte. Fehlsam ist Ansicht der Beklagten, dass beim MD Hessen eingetretenen Verzögerungen nicht zu ihren Lasten gehen und daher keine Kosten zu tragen hätte.
Ein zureichender Grund für die Überschreitung der Regelbearbeitungsfrist besteht im Allgemeinen, wenn die Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts mit einem besonderen zeitlichen Aufwand verbunden ist. Dies ist der Fall, wenn umfangreiche medizinische oder technische Ermittlungen durchgeführt werden müssen oder wenn aufgrund der Mitwirkung von Gutachtern, Prüfausschüssen und bzw. wegen der notwendigen Beteiligung anderer Behörden eine längere Bearbeitungsdauer erforderlich ist. Allerdings entbindet die (notwendige) Heranziehung Dritter zur Sachverhaltsermittlung die angegangene Behörde, also die Beklagte nicht per se von der Pflicht zur zeitnahen Bescheidung. Vielmehr muss sich die angegangene Behörde die durch herangezogene Dritte entstehende Verzögerung des Widerspruchsverfahrens grundsätzlich zurechnen lassen. Vielmehr muss die Behörde, sofern sie Dritte zur Aufklärung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts heranzieht, im Rahmen der ihr durch das Verwaltungsverfahrensrecht eingeräumten Möglichkeiten einer Verschleppung des Verfahrens entgegenwirken (Diehm, in: Roos/Wahrendorf/Müller (Hrsg.), BeckOKG SGG, Kommentar, Stand: 01.08.2023, § 88 SGG Rn. 53 f; Rechtsgedanke des Beschleunigungsgebot aus § 18 Abs. 3b SGB XI, Seifert, in: Becker/Kingreen, SGB V, Kommentar, 8. Aufl. 2022, § 278 SGB V Rn. 7; Allgemeiner Grundsatz zur zügigen Durchführung des Verwaltungsverfahrens aus § 9 S. 2 SGB X, Palsherm, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Kommentar, 2. Aufl. (Stand: 24.11.2021), § 9 SGB X Rn. 26).
Diese Grundsätze auf die Einschaltung des Medizinischen Dienstes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit und des Pflegegrades nach §§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) bzw. auf die Überprüfung dieser im Widerspruchsverfahren übertragen, bedeutet dies vorliegend:
Allein der Umstand, dass der Medizinische Dienst aufgrund seiner organisatorischen Ausgestaltung nicht Organ, Vertreter oder der Erfüllungsgehilfe der Beklagten, sondern vielmehr eine eigenständige Körperschaft ist und diese daher keine unmittelbaren Durchgriffs- und Einflussmöglichkeiten hat, lässt nicht die originäre Obliegenheit der Pflegekasse zur Verfahrensbeschleunigung entfallen. Denn die beklagte Pflegekasse ist grundlegend und vollumfänglich im öffentlichen Interesse als „Herrin des Verwaltungs- und des Widerspruchsverfahrens“ zu einer „einfachen, zweckmäßigen und zügigen“ Verfahrensführung gemäß § 9 S. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) verpflichtet. Eine solche Zurechnung von durch den Medizinischen Dienst zu vertretenden Verzögerungen und eine hieraus sich ergebende Einstandspflicht der Pflegekasse bei Verletzung ihrer eigenen Obliegenheit zur Verfahrensbeschleunigung ist auch nicht unbillig oder gesetzesfremd. Bereits aufgrund des im Verwaltungsverfahren bezüglich der Feststellung der Pflegebedürftigkeit in § 18 Abs. 3b SGB XI speziell normierten Beschleunigungsgebotes muss sich die Pflegekasse durch den Medizinischen Dienst zu vertretende Verzögerungen zurechnen lassen und den Versicherten für Fristüberschreitungen entsprechend finanziell entschädigen (vgl. Roller, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, Kommentar, 3. Aufl. 2021 (Stand: 10.08.2022), § 18 SGB XI Rn. 46; Udsching, in: Udsching/Schütze, SGB XI, Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 18 SGB XI Rn. 17; Baumeister, in: Berchtold/ Huster/Rehborn, Gesundheitsrecht, Kommentar, 2. Aufl. 2018, § 18 SGB XI Rn. 37; Reimer, SGb 2013, 193, 194; ebenso LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.12.2020 – L 4 P 48/20, Juris Rn. 49).
Zur Verhinderung einer Verschleppung oder Verzögerung des Verfahrens durch den hinzugezogenen Medizinischen Dienst hat die Pflegekasse geeignete Maßnahmen zu ergreifen, wobei zu berücksichtigen ist, dass sie aufgrund der organisatorischen Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes gerade keine unmittelbaren Durchgriffs- und Einflussmöglichkeiten zustehen. Dementsprechend sind Maßnahmen wie z. B. Erinnerungen an den Gutachtensauftrag, Hinweise auf die Dringlichkeit oder den bevorstehenden Fristablauf oder Sachstandsanfragen an den Medizinischen Dienst allgemein zur Verfahrensbeschleunigung geeignet und auch zumutbar. Sofern die Pflegekasse solche Maßnahmen nachweislich und rechtzeitig ergriffen hat, so kann ihr zumindest in der Regel nicht eine Verletzung der Obliegenheit zur Beschleunigung des Verfahrens vorgeworfen werden. Dies gilt auch dann, wenn die ergriffenen Maßnahmen letztlich erfolglos gewesen sein sollten und daher eine Verschleppung oder Verzögerung des Verfahrens durch den hinzugezogenen Medizinischen Dienst tatsächlich eingetreten ist, sofern die Pflegekasse den Versicherten über ihr Bemühen zur Verfahrensbeschleunigung informiert hat. Der beklagten Pflegekasse ist es hierdurch möglich eine Einstandspflicht für die Verschleppung oder Verzögerung durch den hinzugezogenen Medizinischen Dient zu vermeiden, denn der nunmehr informierte Versicherte hat keinen berechtigen Anlass für die Erhebung einer Untätigkeitsklage.
Im Übrigen kann die (widerspruchs-)verfahrensführende Pflegekasse auch kein Systemversagen, sei es in der Form von organisatorischen Mängeln, fehlender finanzieller oder personeller Ausstattung des Medizinischen Dienstes, für sich als zureichenden Grund i. S. d. § 88 Abs. 1 SGG für die Überschreitung der dreimonatigen Regelfrist beanspruchen. Zwar vermag eine vorübergehende Überlastung des Medizinischen Dienstes einen zureichenden Grund darstellen (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 88 SGG Rn. 7a; ebenso Claus, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Kommentar 2. Aufl. (Stand: 15.06.2022), § 88 SGG Rn. 38). Dies kann jedoch nicht für eine dauerhaft bestehende Überlastungssituation gelten (vgl. LSG Sachsen, Beschl. v. 17.03.2008 – L 2 B 91/08 AS, Juris Rn. 15.), da die Pflegekasse hierdurch von ihrer Obliegenheit der Verfahrensbeschleunigung effektiv befreit würde und ansonsten die Untätigkeitsklage ihres gesetzlichen Zwecks beraubt werden würde. Zudem erlaubt § 18 Abs. 1 S. 1 SGB XI seit seiner Änderung durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) vom 23.10.2012 ausdrücklich die Beauftragung von unabhängigen Gutachtern zur Feststellung der Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit und des Pflegegrades. Mithin ist die Pflegekasse nicht zur Hinzuziehung des Medizinischen Dienstes gezwungen und kann somit auch auf Überlastungssituationen ausreichend reagieren.
Vor dem Hintergrund dieser Maßstäbe hat die Beklagte die ihr im Verwaltungsverfahrensrecht eingeräumten Möglichkeiten nicht ausreichend genutzt. Vorliegend ist weder aus der Verwaltungsakte, noch aus den zur Gerichtsakte gereichten Unterlagen oder aus dem Vortrag der Beklagten erkenntlich, dass diese zumindest irgendwelche Maßnahmen zur Verhinderung einer Verschleppung oder Verzögerung des Widerspruchsverfahrens durch den MD Hessen vorgenommen hat. Zudem hätte es die Beklagte mit einer Sachstandsmitteilung an den Kläger in der Hand gehabt, den Anlass für die Klageerhebung zu beseitigen. Der allgemeine gehaltene Hinweis im Voraus, dass es aufgrund der COVID-19-Pandemie zu längeren Bearbeitungszeiten beim Medizinischen Dienst komme, genügt hierfür allerdings nicht. Im Übrigen hätte die Beklagte aufgrund den ihr bekannten überlangen Bearbeitungszeiten des MD Hessen auch unabhängige Pflegesachverständige zur Begutachtung beauftragen können. Ein zureichender Grund für das Überschreiten der dreimonatigen Regelfrist liegt damit nicht vor.
Nach alledem hat die Beklagte mangels zureichenden Grund für die eingetretene Verzögerung Anlass zur Erhebung der Untätigkeitsklage gegeben, sodass sie nunmehr auch die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat.
Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG.
eingereicht von P. Becker, Kassel