Die Anforderungen an Anamnese und Untersuchung bei psychiatrischen Gutachten für die (private) Berufsunfähigkeitsversicherung hat der Gesellschaftsarzt Stefan Burghardt des Rückversicherers Gen Re, Köln, in der Internetpublikation GEN RE VIEWPOINT (Mai 2018) beschrieben (vgl. Heft 4/2018 dieser Zeitschrift, S. 178). Im zweiten Teil seiner Arbeit (GEN RE VIEWPOINT, Juni 2018) geht er vor allem auf die Qualitätsanforderungen an die gutachtliche Stellungnahme ein.
So sollte der Gutachter in jedem Fall Stellung dazu nehmen, ob sich Hinweise auf Simulation, Dissimulation, Aggravation oder Verdeutlichungstendenzen finden. Burghardt empfiehlt (den Versicherungsunternehmen) in jedem Fall bereits eine entsprechende Frage an den Gutachter im Gutachtenauftrag.
Diese Thematik ist gerade auch für die Bewertung der im Rahmen der Begutachtung vorgenommenen psychologischen Testungen entscheidend: Neben der bloßen Nennung der – oftmals nicht einheitlich in eine Richtung zeigenden – Testergebnisse ist eine zusammenfassend-bewertende Stellungnahme des Gutachters wichtig.
Zum Abgleich von subjektiven Beschwerden und objektiven Befunden gehört weiter eine Stellungnahme zu der Frage, ob es bei dem Begutachteten Hinweise auf Somatisierung gibt. Falls ja, sollte die Relevanz der Somatisierung im Hinblick auf die Berufsfähigkeit beschrieben werden, denn auch wenn letztlich dem Beschwerdebild keine körperlichen Ursachen zugrunde liegen, können in diesem Falle die körperlich anmutenden Beschwerden die Berufsfähigkeit entsprechend beeinträchtigen.
Neben der Nennung von Diagnosen sollte der Gutachter in der Diskussion auch noch Angaben zu deren Schweregrad, Dauer und Chronifizierungsgrad machen, zumal sich daraus Rückschlüsse ziehen lassen, wie relevant die Erkrankungen für die Berufsfähigkeit des Versicherten sind und wie die Heilungschancen zu bewerten sind.
Weiter sollte der Gutachter eine Gegenüberstellung früherer Befunde mit den von ihm selbst erhobenen vornehmen, wobei etwaige Kongruenzen/Dissonanzen noch einmal herausgearbeitet werden sollen.
Wichtig sind auch Angaben zu ggf. noch bestehenden Therapieoptionen: Waren die bisher durchgeführten Behandlungen (aus Sicht des Gutachters) nicht adäquat, liegt die Überlegung nahe, dass bei angemessener Therapie noch Verbesserungspotenzial vorhanden ist. Wurden hingegen bereits die richtigen Vorbehandlungen durchgeführt, jedoch ohne ausreichenden Erfolg, ist von einer ungünstigen Prognose auszugehen.
Dann sollte der Gutachter zusammenfassend Stellung nehmen zur Frage, welche Aktivitäten und Kompetenzen der Begutachtete aktuell beruflich umsetzen kann, also zum positiven Leistungsbild. Statements zu diesem Komplex belegen die wichtige Transferleistung der Befunde der (experimentell-künstlichen) Untersuchungssituation auf die entscheidende reale berufliche Situation des Versicherten durch den Gutachter, so Burghardt.
Ergänzend sollte der Gutachter entweder Wege aufzeigen, wie die Berufsfähigkeit des Versicherten erhalten, verbessert oder wiederhergestellt werden könnte, oder schlüssig erklären, welche dieser Wege aus welchen Gründen versperrt seien.
Als Ergebnis eines verwertbaren Gutachtens muss letztlich eindeutig Stellung dazu bezogen werden, wie das positive und das negative Restleistungsvermögen einzuschätzen sind, fordert Burghardt. Hieraus sei zu erkennen, ob der Gutachter über die entscheidenden Gutachtenfragen reflektiert habe und wie er sie beantworten könne.
Er warnt allerdings, dass keine „überspannten Erwartungen“ an den Gutachter gestellt werden sollten: Weder Psychologe noch Arzt seien Leistungsregulierer oder Experten für die präzise Einschätzungen einer Berufsunfähigkeit. Insofern sei einer im Gutachten genannten prozentualen Bewertung der Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens mit großer Skepsis zu begegnen. Bereits im Rahmen des Gutachtenauftrags sollte darauf hingewiesen werden, dass diese nicht erforderlich sei. Stattdessen solle der Gutachter Informationen und Einschätzungen zum verbliebenen Restleistungsvermögen liefern, welche für die entsprechende Bewertung der Berufs(un)fähigkeit benötigt werden.
Burghardt verweist hierzu auf ein „bis heute wegweisendes“ Urteil des Oberlandesgerichts Saarbrücken vom 13.10.2010 (AZ: 5 U 339/06 – 49, 5 U 339/06), in dem es heißt: „Maßgeblich für die Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit (…) sind keine prozentualen Schätzungen, sondern Feststellungen zu den konkreten funktionellen gesundheitlichen Einschränkungen bei Wahrnehmung (der) verschiedenen Teiltätigkeiten.“
Zusammenfassend ist entscheidend, dass im Gutachten nachvollziehbar darlegt wird, auf welche Weise eine psychiatrische Krankheit die für die konkrete berufliche Tätigkeit erforderliche Leistungsfähigkeit des Versicherten in welchem Ausmaß reduziert. Auch sollte angegeben werden, ob eine erneute Begutachtung sinnvoll ist und – wenn ja – nach welchem Zeitintervall.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden