Leitsätze:
1. Die Bestimmung des Zeitaufwands für die Erstellung eines Gutachtens hat nach einem objektiven Maßstab aufgrund vier vergütungspflichtiger Arbeitsschritte zu erfolgen.
2. An rechtlich unzutreffende Wertungen des Sachverständigen hinsichtlich einzelner Positionen ist das Gericht nicht gebunden, wenn der gerichtlich festzusetzende Vergütungsanspruch hinter der geltend gemachten Vergütung zurückbleibt.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.08.2021 geändert. Die Vergütung der Antragstellerin für ihr unter dem 14.06.2021 erstattetes medizinisches Sachverständigengutachten wird auf 6.921,74 Euro festgesetzt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Dieser Beschluss ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtlichen Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Aus den Gründen:
Die in Anbetracht der begehrten Heraufsetzung der Vergütung um 1.786,07 Euro auf die in der noch innerhalb der Frist des § 2 Abs. 1 JVEG eingereichten korrigierten Rechnung geltend gemachten 7.575,51 Euro nach Maßgabe von § 4 Abs. 3 Satz 1 JVEG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragstellerin, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat und über die der Senat mangels besonderer Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art oder grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache durch den Vorsitzenden und Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet (§ 4 Abs. 7 Satz 1 und 2 JVEG), ist teilweise begründet. Das Sozialgericht hat die der Antragstellerin für die Erstattung ihres unter dem 14.06.2021 verfassten medizinischen Sachverständigengutachtens zustehende Vergütung zu Unrecht auf lediglich 5.789,44 Euro festgesetzt. Der Sachverständigen steht zwar nicht die beantragte, aber eine höhere Vergütung von 6.921,74 Euro zu.
1. Für die gemäß §§ 9 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 Satz 1 JVEG nach Zeitaufwand zu bemessende Vergütung sind 5.700,- Euro anzusetzen. Der Ansatz der Honorargruppe M3 im Sinne der Anlage 1 zum JVEG in der hier gem. § 24 Satz 1 JVEG wegen der noch im Jahre 2020 erfolgten Beauftragung anwendbaren, bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung (100,- Euro pro Stunde) ist dabei zwischen den Beteiligten unstreitig und auch in der Sache nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist aber ein Zeitaufwand von 57 Stunden als erforderlich anzusehen.
Nach §§ 9 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 Satz 1 JVEG richtet sich die Vergütung des Sachverständigen nach der für die Gutachtenerstellung erforderlichen Zeit. Wie viel Zeit erforderlich ist, hängt nicht von der individuellen Arbeitsweise des Sachverständigen ab, sondern ist nach einem objektiven Maßstab zu bestimmen. Erforderlich ist derjenige Zeitaufwand, den ein Sachverständiger mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung bei sachgemäßer Auftragserledigung mit durchschnittlicher Arbeitsintensität benötigt, um sich nach sorgfältigem Studium ein Bild von den zu beantwortenden Fragen machen zu können und nach eingehender Überlegung seine gutachtlichen Darlegungen zu den ihm gestellten Fragen schriftlich niederzulegen. Dabei ist der Umfang des unterbreiteten Sachstoffs, der Grad der Schwierigkeit der zu beantwortenden Beweisfragen unter Berücksichtigung seiner Sachkunde auf dem betreffenden Gebiet und die Bedeutung der Sache angemessen zu berücksichtigen (ständige Rechtsprechung des zuständigen Senats, statt vieler Beschluss vom 20.02.2015 - L 15 KR 376/14 B -, juris Rn. 28 m. w. N.).
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sowie des zuvor für Vergütungsansprüche von Sachverständigen zuständigen 4. Senats des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen gliedert sich die Erstellung eines Gutachtens zur Gewährleistung eines objektiven Maßstabs hinsichtlich des erforderlichen Zeitaufwandes in vier vergütungspflichtige Arbeitsschritte (vgl. z. B. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 25.02.2005 - L 4 B 7/04 -, juris Rn. 22 ff. m. w. N.):
Ausgehend von dieser eine gleichmäßige Rechtsanwendung gewährleistenden und im Hinblick auf die Anforderungen an ein sozialmedizinisches Sachverständigengutachten (vgl. hierzu z. B. Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 22.04.2008 - L 1 B 89/08 SK -, juris Rn. 4; Giesbert, in jurisPK-SGG, § 128 Rn. 55) sachgerechten Strukturierung lässt sich zwar ein Zeitaufwand von 62,5 Stunden, wie von der Antragstellerin geltend gemacht, nicht begründen. Der vom Sozialgericht angesetzte Zeitaufwand von 47,5 Stunden ist jedoch zu gering bemessen. Erforderlich und angemessen sind vielmehr 57 Stunden.
a) Das Sozialgericht hat im Grundsatz zutreffend erkannt, dass der Ansatz der Antragstellerin von 31,5 Stunden für den Arbeitsschritt „Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten“ überhöht und für das Studium der insgesamt 2.500 Seiten umfassenden Akten nur ein Zeitaufwand von 25 Stunden anzusetzen ist. Auf die insoweit in jeder Hinsicht zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss, die der ständigen Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen entsprechen, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Beschwerdevorbringen führt zu keiner anderen Bewertung. Dass und warum im vorliegenden Fall ein durchschnittlicher Sachverständiger objektiv betrachtet abweichend vom Üblichen mehr als eine Stunde pro 100 Seiten benötigen soll, erschließt sich nach dem Vorbringen der Antragstellerin nicht. Dass sie selbst tatsächlich mehr Zeit benötigt hat, bedeutet nicht, dass dieser Zeitaufwand auch objektiv erforderlich war.
Der Senat hält allerdings im Hinblick auf die von der Antragstellerin in ihren Schreiben vom 20.03.2020 und 05.08.2020 erfolgte Nachforderung von Unterlagen den Ansatz einer weiteren Stunde für vorbereitende Arbeiten für objektiv erforderlich und angemessen. Darin enthalten ist nicht nur die Zeit für die Abfassung der genannten Schreiben, sondern auch der Aufwand für die erforderliche Prüfung, ob die Akten zur ordnungsgemäßen Erstellung des Gutachtens vollständig sind. Ein höherer Zeitaufwand insoweit wird von der Antragstellerin nicht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass und warum für die genannten vorbereitenden Arbeiten mehr als eine Stunde objektiv erforderlich gewesen sein soll.
Nicht zu berücksichtigen ist demgegenüber die Zeit, die die Antragstellerin durch Korrespondenz und Telefonate mit dem Sozialgericht in Bezug auf die Rückgabe des Gutachtenauftrags, die Frist für die Erstattung des Gutachtens und den anzusetzenden Zeitaufwand für das Aktenstudium aufgewendet hat. Insoweit handelt es sich nicht um Zeitaufwand für die Erstellung des Gutachtens. Die von der Antragstellerin insoweit aufgewendete Zeit betraf allein ihre aus § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 407a Abs. 1, 411 Abs. 1 ZPO folgenden Pflichten sowie ihren Vergütungsanspruch. Die Antragstellerin hat insoweit allein im eigenen Interesse gehandelt, nämlich u. a. zur Vermeidung eines Ordnungsgeldes gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 409 Abs. 1 Satz 2, 411 Abs. 2 ZPO bzw. zur Erlösoptimierung. Ein Anspruch auf Vergütung insoweit ist gesetzlich nicht vorgesehen.
Für den Arbeitsschritt „Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten“ sind deshalb 26 Stunden anzusetzen.
b) Bei dem Arbeitsschritt „Untersuchung und Anamnese“ ist das Sozialgericht den Angaben der Sachverständigen (2,5 Stunden) gefolgt. Weitere Ausführungen erübrigen sich daher.
c) Für den Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ hält der Senat entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Staatskasse den von der Sachverständigen selbst insoweit angesetzten Aufwand von 16,5 Stunden für angemessen.
Der Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ umfasst die Beantwortung der vom Gericht gestellten Fragen und die nähere Begründung, also den Teil des Gutachtens, den das Gericht bei seiner Entscheidung verwerten kann, um ohne medizinischen Sachverstand seine Entscheidung begründen zu können. Dazu gehört die diktatreife Vorbereitung der Beurteilung ohne Wiedergabe der Anamnese, der Untersuchungsergebnisse oder Befunde, einschließlich der Begründung der vom Sachverständigen getroffenen Schlussfolgerung, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Vorgutachten, anders lautenden Befunden sowie die Auseinandersetzung mit kontroversen Meinungen. In diesem Arbeitsschritt wird die eigentliche Gedankenarbeit im Zusammenhang mit der Auswertung der erhobenen Befunde, deren Würdigung im Hinblick auf die Beweisfrage sowie die diktatreife Vorbereitung abgegolten. Der Zeitaufwand insoweit ist nicht schematisch nach der Seitenzahl des Gutachtens festzusetzen. Maßgeblich ist vielmehr der Umfang und die Schwierigkeit der gedanklichen Arbeit des Sachverständigen im Einzelfall (vgl. zum Ganzen Beschl. des Senats v. 20.02.2015 - L 15 KR 376/14 B -, juris Rn. 29).
Nach diesen Grundsätzen erscheinen die von der Antragstellerin angesetzten 16,5 Stunden nicht überhöht. Wie der Senat schon mehrfach entschieden hat, ist der notwendige Zeitaufwand für die gesamte gedankliche Arbeit des Sachverständigen, die dieser objektiv benötigt, um die Beweisfragen schlüssig und für das Gericht nachvollziehbar zu beantworten, zu berücksichtigen. Zur gedanklichen Arbeit eines Sachverständigen gehört auch das Rekapitulieren und analytische Auswerten von Befunden und dem relevanten Akteninhalt. Ebenso gehört die Konzeption eines für das Gericht nachvollziehbaren analytischen Textes hierzu. Es verbietet sich daher, im Wesentlichen allein auf den Teil des Gutachtens abzustellen, in dem die Beweisfragen beantwortet werden (hier Seiten 74 bis 80 des Gutachtens). Vielmehr ist davon auszugehen, dass der gesamte, unter der Überschrift „Zusammenfassung und Beurteilung“ auf den Seiten 57 bis 80 des Gutachtens niedergelegte Text die zur Beantwortung der Beweisfragen notwendige gedankliche Arbeit des Sachverständigen wiedergibt. Warum hierfür als objektiv benötigter Zeitaufwand lediglich 8 Stunden anstelle der von Antragstellerin angegebenen 16,5 Stunden anzuerkennen sein sollen, erschließt sich nicht. Dass die Antragstellerin für ihre gedankliche Arbeit tatsächlich 16,5 Stunden aufgewendet hat, stellen weder das Sozialgericht noch die Staatskasse in Abrede. Dass und warum für die gedankliche Arbeit objektiv betrachtet lediglich 8 Stunden erforderlich gewesen sein sollen, legen sie ebenfalls nicht plausibel dar. Ein allgemein anerkannter Erfahrungssatz, dass von einem Aufwand von einer Stunde für 3 bis 4 beschriebene Seiten auszugehen ist, existiert nicht (vgl. insoweit die Nachweise in LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.01.2014 - L 12 KO 4491/12 B -, juris Rn.16).
d) Für „Diktat und Korrektur“ sind nach der übereinstimmenden Einschätzung der Beteiligten und in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (6 Seiten zu 1.650 Anschlägen inklusive Leerzeichen pro Stunden) 12 Stunden als erforderlicher Zeitaufwand anzusetzen. Auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts wird Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).
e) Insgesamt ergibt sich damit ein erforderlicher und angemessenere Zeitaufwand von 57 Stunden.
2. Weiterhin erstattungsfähig sind Kosten für Porto und Verpackung (§ 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG a. F.) in Höhe von 9,49 Euro und Schreibgebühren in Höhe der ursprünglich geltend gemachten 107,10 Euro (§ 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 JVEG). Wie die Antragstellerin auf die in der korrigierten Rechnung geltend gemachten 108,- Euro kommt, erschließt sich nicht.
3. Schließlich ist gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 JVEG die von der Antragstellerin tatsächlich zu entrichtende Umsatzsteuer, die wegen des Eingangs beim Sozialgericht nach dem 31.12.2020 mit einem Steuersatz von 19% anzusetzen ist (vgl. den Beschluss des Senats vom 06.07.2021 - L 15 S. 56/21 B -, juris Rn. 2 ff.), in Höhe von 1.105,15 Euro zu berücksichtigen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Staatskasse hat die Antragstellerin nach umsatzsteuerrechtlichen Vorschriften auch auf die Fremdleistung „Porto“ (9,49 Euro) Umsatzsteuer zu entrichten (dazu mit ausführlicher Begründung SG Fulda, Beschluss vom 03.06.2015 - S 4 S. 58/14 E -, juris Rn. 32 ff.; dem folgend Weber, in: Toussaint, Kostenrecht, 51. Aufl. 2021, § 12 JVEG Rn. 30; Janke/Pflüger, JVEG, 28. Aufl. 2021, § 12 Rn. 38). Dass sie selbst nach den von ihr eingereichten Rechnungen vom Gegenteil ausgeht, hindert den Senat nicht daran, die Umsatzsteuer rechtlich zutreffend zu berechnen. Der auch in Verfahren nach dem JVEG geltende Dispositionsgrundsatz beschränkt den Vergütungsanspruch hinsichtlich der Gesamtsumme und der auf die einzelnen Arbeitsschritte entfallenden Teilvergütungen der Höhe nach. An rechtlich unzutreffende Wertungen der Antragstellerin ist der Senat jedoch nicht gebunden, wenn, wie hier, der gerichtlich festzusetzende Vergütungsanspruch hinter der geltend gemachten Vergütung zurückbleibt.
4. Es ergibt sich damit eine Vergütungsanspruch in Höhe von 6.921,74 Euro.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 4 Abs. 8 JVEG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG, § 177 SGG).
Redaktionell überarbeitete Fassung
eingereicht von P. Becker, Kassel