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Begutachtung von psychischen Erkrankungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung

Mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung, z. B. einer Depression (ICD-10 F32), ist es bei der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit i. R. der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung nicht getan, erklärt Lorenz ­Schweyer, Facharzt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Forensischer Psychiater in der Zeitschrift „BU­aktuell“ (Heft 2/2018) der Gen Re Business School. Hierzu bedarf es vielmehr einer sorgfältigen Beurteilung der Leistungsfähigkeit nach den Kriterien der ICF (International Classification of Functioning der WHO).

Erforderlich ist eine differenzierte gutachtliche Bewertung und Konsistenzprüfung unter Berücksichtigung der Möglichkeit zur Krankheitsverarbeitung sowie aus dem Abgleich der noch möglichen Aktivitäten (Angaben zur Tagesstruktur bzw. zu alltäglichen Verrichtungen) und der Fähigkeiten, dem Anforderungsprofil der zuletzt ausgeübten Tätigkeit gerecht zu werden.

Problematische Atteste vom ­behandelnden Arzt

Ein typisches Problem liegt in einer großzügigen Ausstellung von Attesten durch den behandelnden Arzt. Den Gutachter überrascht immer wieder, was den Patienten in ärztlichen Bescheinigungen bereitwillig attestiert wird, obwohl es objektiv überhaupt nicht haltbar ist. Man liest dann etwa Verdachtsdiagnosen, welche ohne entsprechende Bestätigung in den Raum gestellt werden, oder „Zustand-nach“-Diagnosen ohne
Mitteilung des aktuellen Funktionszustandes.

Oft werden auch ganze Diagnoselisten aneinandergereiht, ohne dass die entsprechenden fachärztlichen Befunde erhoben oder die Kriterien des ICD-10 auch nur ansatzweise beachtet wurden. Nicht selten wird in Attesten eine angeblich „schwere Depression“ bescheinigt, ohne dass sich ein entsprechender psychopathologischer Befund findet und ohne dass eine antidepressive Medikation bzw. eine psychiatrische Behandlung eingeleitet wurde.

Manches aus Gefälligkeit erstellte Attest, welches nur scheinbar im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen bedeutungslos erscheint, muss als ärztliche Fehlleistung angesehen werden, kritisiert Schweyer.

Beschwerdenvalidierung und
Konsistenzprüfung

Ein qualifizierter medizinischer Gutachter hat auch darzulegen, welche Anknüpfungstatsachen von ihm zugrunde gelegt werden und wie diese ermittelt wurden. Kurze und schlichte Ausführungen wie die Behauptung, die Beschwerdeschilderung sei „nachvollziehbar“ oder „für das Krankheitsbild typisch“, sind ohne wissenschaftliche Einordnung unbrauchbar.

Darzulegen ist, mit welchen Methoden und testpsychologischen Verfahren die Schilderung des Versicherten überprüft wurden, um etwaige bewusstseinsnahe Verfälschungstendenzen (Simulation bzw. Dissimulation oder Aggravation) zu identifizieren. Verzichtet der Gutachter auf eine neuropsychologische Validierung, so sind die gutachtlichen Ergebnisse nicht nur eingeschränkt, sondern unter Umständen sogar wertlos. Das gilt insbesondere für die Beantwortung der Frage, inwieweit die geklagten Beschwerden (etwa Störungen der Merkfähigkeit, der Aufmerksamkeit und der Konzentration) im Sinne einer Hirnleistungsstörung zu werten sind.

Die gutachtliche Konsistenzprüfung erfordert das sachkundige Wissen über übliche Konstellationen und Symptome sowie über den charakteristischen zeitlichen Verlauf und bekannte Folgen psychischer Störungen. Die Konsistenzprüfung beinhaltet eine sorgfältige Bewertung der aus der Aktenlage verfügbaren Informationen.

Die vom Untersuchten geschilderten Beschwerden und Funktionseinschränkungen sind mit Informationen über die Beeinträchtigung (bzw. Ungestörtheit) von Alltagshandlungen/komplexen Funktionen im Alltag abzugleichen, und zwar unter Würdigung der Verhaltensbeobachtung und des vom Gutachter selbst erhobenen psychischen Befundes. Zu berücksichtigen sind dabei die Ergebnisse der standardisierten Fragebogen- und neuropsychologischen Testdiagnostik sowie der Funktionsdiagnostik (EEG, EMG, NLG, Labor).

Beurteilung einer möglichen ­Gesundheitsbesserung hinsichtlich ­einer Nachprüfung

Prinzipiell handelt es sich etwa bei einer depressiven Episode um eine zeitlich begrenzte psychische Störung. Bei der Beurteilung der Prognose (hinsichtlich einer späteren Nachprüfung) sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  • Bisheriger Verlauf der Erkrankung (Schweregrad, Dauer, Chronifizierung)
  • Bisherige ambulante und/oder stationäre Therapiemaßnahmen (und deren Erfolg)
  • Krankheitsverarbeitung
  • Veränderungsmotivation
  • Umstände der Antragstellung auf Berufsunfähigkeitsleistungen unter Berücksichtigung des sozialen Hintergrunds, des Bildungsgrades und des Berufs
  • Eine sorgfältige Analyse von Art und Weise des Zustandekommens einer psychischen Gesundheitsstörung erlaubt eine prognostische Aussage zur möglichen Überwindbarkeit der Beschwerden, so Schweyer.

    ■ G.-M. Ostendorf, Wiesbaden