So erscheint es merkwürdig, dass leichtere COVID-Verläufe angeblich eine höhere Rate an unspezifischen persistierenden neuropsychiatrischen Symptomen aufweisen als hospitalisierte Patienten. Mit einem kritischen Blick ist man insgesamt irritiert, mit welcher Vehemenz ein gesamtes Gesundheitssystem eine unspezifische Symptomatik als „organisch gegeben“ postuliert und selbst die Wissenschaft kreativste Hypothesen zur viral-autoimmunologischen Ätiologie verbreitet, ohne dass auch nur eine davon belegt wäre!
Neurologen kennen sehr wohl persistierende postinfektiöse Konstellationen wie Post-Polio, tödliche SSPE nach Masern oder die Enzephalitis lethargica nach der „Spanischen Grippe“ (H1N1). Aber Post-/Long-COVID wird ja quasi schon als Erwartung suggeriert, wenn beispielsweise mit der Warnung vor einem „Post- COVID-Syndrom“ für die Impfung geworben wird. Während seitens der Wissenschaft etwa mit den „Post-Lyme“-Symptomen sehr kritisch umgegangen wird, ist es bei „Post-COVID“ völlig anders und die „Beweislast“ ist quasi umgekehrt.
Es sieht zudem durchaus so aus, dass es Profiteure dieser Welle gibt, kritisierte Erbguth: Es werden Millionen für Forschungsanträge im Post-COVID-Bereich ausgeschüttet und ganze Reha-Klinikketten „spezialisieren“ sich auf die Erkrankung und füllen ihre Betten. Er wies darauf hin, dass es bei einer jährlichen Inzidenz der Depression von ca. 2 % in Deutschland quasi zwingend sei, dass sich diese auch bei 2 % der COVID-Infizierten manifestiere. Wahrscheinlich erhalte die Symptomatik dann das „Post-COVID“-Label.
Weiter ist völlig unklar, wie die Berufsgenossenschaften mit der Long-/Post-COVID-Problematik umgehen werden: Wurde vor der Pandemie die Anerkennung der Berufskrankheit BK 3101 (Infektionserkrankung) pro Jahr etwa 2.000-mal beantragt, so ist diese Zahl um das ca. 100-Fache gesteigert auf pro Jahr ca. 200.000 Anträge. Wie diese bewältigt werden sollen, ist völlig unklar. Aber es bieten sich bereits Anwälte im Internet an, um die Rentenansprüche durchzusetzen, berichtete Erbguth.
Es möge polemisch klingen, aber irgendwie scheine hier das „Kriegsgewinnlertum“ im Post-COVID-Umfeld zum Nachteil der Patienten verbreitet zu sein.
Aktuelle Studienergebnisse deuten zudem darauf hin, dass anhaltende unspezifische Symptome nach einer COVID-19-Infektion eher mit der Überzeugung, mit SARS-CoV-2 infiziert worden zu sein, in Zusammenhang stehen als mit einer im Labor bestätigten tatsächlichen COVID-19-Infektion.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden