Unklares Bild zur Kindeswohlgefährdung in der Pandemie
„Schon in der ersten Lockdown-Phase ging die Inanspruchnahme der Kinderschutz-Hotline durch Praxen und Krankenhäuser auf 70 Prozent des durchschnittlichen Niveaus zurück“, berichten Professor Dr. med. Vera Clemens und Professor Dr. med. Jörg Fegert von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm in ihrem Editorial. Die geringere Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen aus Angst vor einer Ansteckung begrenze die Möglichkeit, eine Gefährdung des Kindeswohls zu entdecken und zu melden, so die Experten. Auch andere Hinweisgeber wie Lehrer standen aufgrund der Schulschließungen nicht zur Verfügung. Deshalb nimmt die Bedeutung der Jugendämter beim Kinderschutz weiter zu. Im Rahmen einer bundesweiten Befragung des Deutschen Jugendinstituts (DJI)1 äußerten die teilnehmenden Jugendämter jedoch eine große Unsicherheit bezüglich der Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien während des Lockdowns. Obwohl über die Hälfte (55 Prozent) von ihnen angab, dass der Lockdown keine Auswirkungen auf die Anzahl der Gefährdungsmeldungen hatte, gaben immerhin 15 Prozent davon an, sich nicht dazu in der Lage zu sehen, zum Befragungszeitpunkt eine Einschätzung abzugeben.
Die Psyche von Kindern und Jugendlichen leidet
Zu weiteren Ergebnissen kommen Untersuchungen zur psychischen Verfassung von Kindern. Im Rahmen einer Befragung2 erhoben Hamburger Mediziner Daten zum Belastungserleben und zu psychischen Auffälligkeiten von über 1000 Kindern und Jugendlichen in der Hansestadt. Zwei Drittel von ihnen fühlten sich durch die Pandemie belastet. Ihre Lebenszufriedenheit und Lebensqualität hatten sich im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie verschlechtert. Sie berichteten häufiger über psychosomatische Beschwerden wie Gereiztheit, Einschlafprobleme und Kopfschmerzen. Besonders belastet waren sozial benachteiligte Kinder. Ein guter familiärer Zusammenhalt wirkte protektiv und konnte die Belastungen durch die Pandemie abmildern. Eine weitere Untersuchung3 unter Beteiligung von Professor Clemens und Professor Fegert zeigt zudem, dass Kinder von psychisch erkrankten Eltern einer stärkeren Belastung ausgesetzt sind. Sie wiesen sowohl vor als auch während des Lockdowns häufiger Verhaltensauffälligkeiten auf. Auch waren sie weniger gut in der Lage, mit den neuen Herausforderungen umzugehen und diese innerhalb der Familie zu meistern.
Unterstützungsangebote: Videotherapie und Infoportal
Angesichts der zunehmenden Belastung sind jugendgemäße digitale Hilfsangebote dringend notwendig. Als einen Lichtblick bezeichnen die beiden Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie deshalb das webbasierte Infoportal „Corona und Du“4, das an der LMU Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt wurde. Dort finden Jugendliche zielgruppengerecht aufbereitete Informationen, Tipps und Hilfen zur Prävention und zum Umgang mit psychischer Belastung in der Corona-Krise. Auch im Therapiebereich gibt es erste erfolgversprechende Ansätze. „Videotherapeutische Psychotherapiesitzungen beispielsweise sind ein wichtiges Mittel, um Patienten während Lockdown-Phasen Behandlungsangebote machen zu können“, erklären die Kinder- und Jugendpsychiater. Ein Beispiel ist die Videotherapie in der verhaltenstherapeutischen Ausbildungsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm5, die bei Kindern, Jugendlichen, Sorgeberechtigten und Therapeuten auf eine breite Akzeptanz stößt.
„Viele Kinder und Jugendliche werden sich – nachdem wir die Situation überstanden haben – wieder ganz gut zurechtfinden. Für andere droht die Krise zur dauerhaften Belastung zu werden“, erklären die Ulmer Mediziner. Sie mahnen deshalb eine vorrausschauende Familien- und Gesundheitspolitik an, die insbesondere Kinder und Jugendliche mit psychischen Belastungen hilft. Damit schließen sie sich den Forderungen der Europäischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ESCAP) und dem Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) an.
Zitierte Schwerpunktbeiträge der Ausgabe 5/2021:
1A. Maierhof et al.:
Kinderschutz in Zeiten der Coronapandemie
Nervenheilkunde 2021; 40 (5); S. 312–318
2A. Kamann et al.:
Belastungserleben und psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in Hamburg während der COVID-19-Pandemie
Nervenheilkunde 2021; 40 (5); S. 319–326
3V. Clemens et al.:
Psychische Vorerkrankungen der Eltern und psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen
Nervenheilkunde 2021; 40 (5); S. 327–332
4C.E. Piechaczek et al.:
Corona und Du
Nervenheilkunde 2021; 40 (5); S. 333–340
5D. Bernheim et al.:
Akzeptanz der Videotherapie an einer Ausbildungsambulanz für Verhaltenstherapie für Kinder und Jugendliche in Zeiten der Corona-Pandemie
Nervenheilkunde 2021; 40 (5); S. 341–347
Pressemitteilung Thieme Verlag