Angesichts vielfältiger Hinweise, dass psychische bzw. psychosoziale Faktoren eine erhebliche Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Post-COVID-Syndroms haben, ist eine rein somatische Sichtweise zu reduktionistisch und wird dem komplexen Krankheitsbild nicht gerecht.
Bei schwer ausgeprägter Symptomatik wird häufig die Diagnose ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom) gestellt. International werden verschiedene Kriterienkataloge zur Diagnosestellung vorgeschlagen, die jedoch alle rein symptombasiert sind, was aus gutachtlicher Sicht nicht ausreicht.
Post-Exertional Malaise (PEM) beschreibt als Sonderform der Belastungsintoleranz die Verschlechterung vorbestehender Krankheitssymptome infolge geringer körperlicher oder geistiger Belastung. Die länger als 14 Stunden anhaltende PEM gilt als Leitsymptom einer ME/CFS mit angeblich hohem diagnostischem Stellenwert.
Dazu findet sich jedoch in der DEGAM-S3-Leitlinie „Müdigkeit“ vom November 2022 ein kritisches Sondervotum der Fachgesellschaften DKPM, DGPM, DGIM, DGPPN. Demnach ist Betonung von PEM als spezifisches Kennzeichen von bzw. als Warnzeichen für CFS irreführend. Auch sollte die historisch wenig distinkt entstandene Bezeichnung „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) nicht unkritisch benutzt werden.
In einer gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB) sowie der Fachgesellschaften DGN, DGPPN, DGPM und DGPPR zur Begutachtung bei Fatigue-Symptomen vom 4. September 2023 wird entsprechend festgestellt, dass die Diagnose einer myalgischen Enzephalomyelitis im gutachtlichen Kontext nur dann gestellt werden kann, wenn eine entzündliche Hirn- bzw. Rückenmarkserkrankung tatsächlich nachgewiesen ist.
Fazit
Weiterhin gilt die bereits von den Referenten beim Heidelberger Gespräch 2022 aufgestellte Forderung, dass die Begutachtung des Post-COVID-Syndroms in jedem Fachgebiet im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Konzepts erfolgen muss.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden