An dieser Aufzählung fällt auf, dass nur an zwei Stellen Angaben zur Dringlichkeit gemacht werden. Denn das Betreuen anderer soll offenbar nur durchgeführt werden, wenn sonst ein Notfall einträte. Termine und die etwas vage bezeichneten „anderen Tätigkeiten“ werden ergänzt durch die Angaben, dass diese erforderlich beziehungsweise notwendig sein müssen. Nicht hingegen in der Dringlichkeit abgestuft werden -und das ist für die Leserinnen und Leser an dieser Stelle vielleicht interessant- die „Arzttermine“.
Als behandelnde Ärzte (und im Falle der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung zähle ich die Psychologischen Psychotherapeuten einmal dazu) befassen sich viele Kollegen gerade damit, die Behandlungsabläufe so abzuändern, dass
· das Risiko für Infektionen in den eigenen Praxis-/Klinikräumlichkeiten möglichst minimiert wird
· Kapazitäten für derzeit und zukünftig vorrangig zu diagnostizierende und versorgende Patienten vorgehalten werden können, um einer erwarteten großen Anzahl an gesondert behandlungsbedürftigen Verläufen einer Infektion mit dem neuartigen Corona-Virus gerecht werden zu können.
Das führt derzeit dazu, dass Kliniken und niedergelassene Kolleginnen und Kollegen im medizinischen Sektor in jedem Einzelfall entscheiden müssen, welche Behandlung vor diesem Hintergrund aufschiebbar ist und was zum jetzigen Zeitpunkt medizinisch notwendig ist. Nicht jeder Arztbesuch ist gleich dringlich. Im psychiatrisch-psychotherapeutischen Sektor zählen beispielsweise zu den „unaufschiebbaren“ Behandlungen naturgemäß die psychiatrischen Notfälle, bei denen eine stationäre Behandlung unumgänglich wäre, da sonst eigen- oder fremdaggressive Verhaltensweisen zu befürchten wären.
Auf den zweiten Blick jedoch ist auch in vielen anderen Fällen diese Einschätzung schwierig: Bei vielen oftmals chronisch verlaufenden psychiatrischen Erkrankungen wäre eventuell eine überraschende Zwangspause der Behandlung Anlass genug, um eine Symptomverstärkung zu begünstigen und dann hierdurch erst zu einem Notfall zu werden, obwohl das Bild zuvor eigentlich ausreichend stabil erschien. Deshalb werden gerade an vielen Stellen richtigerweise alternative Behandlungsformen diskutiert und ausprobiert, beispielsweise die Umstellung auf eine psychotherapeutische Behandlung über Telefon- oder Videokontakte. Die entsprechenden Rahmenbedingungen der Abrechnung wurden bereits für das nächste Quartal angepasst
(vgl. Stellungnahme der KBV vom 16.3.2020 ).
Doch was gilt in dieser Zeit für die Sachverständigentätigkeit bzw. Begutachtungen? Sind Termine zur Begutachtung in der jetzigen Lage als notwendig zu bezeichnen? Ist es verantwortbar, diese Termine trotzdem stattfinden zu lassen? Ähnlich wie im Falle der Heilbehandlungen ist hier wohl keine pauschale Antwort möglich.
Doch die folgenden Kriterien können bei der individuellen Entscheidungsfindung möglicherweise helfen:
1. Sind der Proband und der Sachverständige aktuell nicht als Verdachtsfall gemäß den jeweils gültigen Leitlinien des Robert-Koch-Instituts einzustufen?
2. Ist eine Untersuchung zu der gutachtlichen Fragestellung ohne erhöhtes Infektionsrisiko möglich?
a. Sind Körperkontakte nötig? Wenn ja, ist eine Desinfektion möglich und ggf. eine Schutzausrüstung vorhanden?
b. Sind Gespräche in ausreichendem Sicherheitsabstand und gut belüfteten Räumen möglich?
3. Ist der Ort der Begutachtung geeignet?
a. Ist eine individuelle Anreise per PKW möglich?
b. Ist das Aufsuchen des Ortes ohne viele direkte Kontakte möglich, z. B. ohne Anmeldungen, Pförtner, viel frequentierte Eingänge mit Türklinken, Handläufen usw., Wartebereiche mit vielen anderen (ggf. kranken) Menschen?
c. Falls notwendig: Sind Begleitpersonen in der Wartezeit vor Infektionsrisiken geschützt?
4. Handelt es sich um dringliche Fragestellungen?
a. Was passiert bei einer (ggf. nicht absehbaren) zeitlichen Verschiebung der Begutachtung? Hier ist die Spanne der Konsequenzen groß: Manchmal könnte dies „nur“ die verzögerte Zahlung einer Leistung, wie z. B. einer Rente oder einer Versicherungsleistung, bedeuten. Bei amtsärztlichen Untersuchungen könnte dies jedoch auch mit etwaigen Personalengpässen in der öffentlichen Verwaltung in einigen Wochen bis Monaten, bei strafrechtlichen Fragestellungen mit verzögerten Entlassungen aus einer forensischen Einrichtung verbunden sein. Hier empfiehlt sich eine Absprache und gemeinsame Erörterung mit dem jeweiligen Auftraggeber.
b. Das oft verwendete Wort der „Systemrelevanz“ ist bei näherer Betrachtung unscharf. Nicht nur die derzeit viel zitierten Intensivmediziner und -pfleger, die Verkäufer und Kraftfahrer sind unersetzlich für die Krisenbewältigung. Auch ein weiterhin funktionierendes Verwaltungs- und Justizwesen, und hierzu sind die meisten gutachtlichen Fragestellungen zu zählen, sind ein entscheidender Bereich, der -in gegebenenfalls angepasster Form- dazu beiträgt, dass trotz aller Veränderungen ein Alltag möglich ist und auch in einigen Monaten noch sein wird.
Felix Aßhauer, Hamburg