Schlagwörter: § 109er-Gutachten – Kostenübernahme Staatskasse – Wesentliche Sachaufklärung – Entscheidungsrelevanz - Teilerfolg
Leitsatz:
Eine Übernahme der Kosten eines Gutachtens nach § 109 SGG auf die Staatskasse ist nur gerechtfertigt, wenn das Gutachten wesentlich für die Sachaufklärung oder relevant für die gerichtliche Entscheidung war. Für ein Gutachten, das nur zu einem untergeordneten Teilerfolg geführt hat, nach dem noch zwei streitige gerichtliche Entscheidungen notwendig waren, ist dies zu verneinen.
Aus den Gründen:
(1) Die von der Beschwerdeführerin am 10. Juni 2020 eingelegte Beschwerde gegen den Beschluss des SG Stade vom 4. Juni 2020, mit welchem der Antrag der Beschwerdeführerin auf Übernahme der Kosten für das Sachverständigengutachten der Ärztin Dr. G. vom 4. März 2019 auf die Landeskasse abgelehnt worden ist, ist zulässig, aber nicht begründet.
I.
(2) Im Ausgangsverfahren wandte sich die Beschwerdeführerin als Klägerin gegen eine mit Wirkung vom 1. Oktober 2015 von Amts wegen erfolgte Neufeststellung ihres Grades der Behinderung (GdB) von zuvor 80 mit zunächst 50 sowie die Entziehung von Merkzeichen nach einem im August 2010 erlittenen schweren Motorradunfall. Im Verwaltungsverfahren wurde ein Sachverständigengutachten des Chirurgen H. eingeholt, der im Gerichtsverfahren auf Anforderung des SG Stade eine ergänzende Stellungnahme abgab. Er bemaß den GdB auf der Grundlage seiner Feststellungen mit nunmehr noch 50 und bestätigte insbesondere eine eindeutige Besserung der Funktionsstörungen des beim Unfall schwer verletzten rechten Beines gegenüber der vorausgegangenen Feststellung. Die Beschwerdeführerin könne das rechte Bein mittlerweile voll belasten, die Brüche seien fest knöchern ausgeheilt.
(3) Auf Antrag der Beschwerdeführerin wurde alsdann in Anwendung des § 109 SGG ein unfallchirurgisch-orthopädisches Sachverständigengutachten der Fachärztin Dr. G. vom 4. März 2019 eingeholt. Sie wies in Bezug auf die Funktionsstörung des rechten Beines ausdrücklich nochmals auf eine festgestellte Nervenschädigung des Nervus tibialis und des Nervus peroneus hin. Hierfür schlug sie neben dem vom Sachverständigen H. vorgeschlagenen Einzel-GdB von 50 für die Funktionsbehinderung des rechten Beines, den sie insoweit bestätigte, zusätzlich einen Einzel-GdB von 30 vor und bezifferte den Gesamt-GdB unter Berücksichtigung weiterer Funktionsstörungen mit 70. Nach nochmaliger Konsultation des Ärztlichen Dienstes gab der Beklagte des Ausgangsverfahrens unter dem 27. März 2019 ein Teilanerkenntnis dahingehend ab, den GdB der Beschwerdeführerin lediglich auf 60 statt auf 50 abzusenken und präzisierte die Bezeichnung der Funktionseinschränkung des rechten Beines, insbesondere ergänzt um die von der Sachverständigen Dr. G. dargelegten Nervenschädigungen. Die Unfallfolgen im Bereich des rechten Beines seien unter Berücksichtigung von Teil A Nr. 2e Versorgungsmedizinische Grundsätze (VMG) gemeinsam zu beurteilen. Die Beschwerdeführerin nahm das Teilanerkenntnis zunächst nicht an. Mit Gerichtsbescheid vom 11. Juni 2019 verurteilte das SG Stade den Beklagten entsprechend seines Teilanerkenntnisses vom 27. März 2019, ab 1. Oktober 2015 einen GdB von 60 festzustellen, und wies die Klage im Übrigen ab. Die Anhebung des GdB auf 60 rechtfertige sich aus den zusätzlich festgestellten Nervenschädigungen. Die nachfolgende Berufung der Beschwerdeführerin blieb gemäß Urteil des Senats vom 13. Mai 2020 erfolglos.
II.
(4) Auf den nach Beendigung des Hauptsacheverfahrens gestellten Antrag der Beschwerdeführerin hatte das SG gemäß § 109 Abs. 1 S. 2 SGG darüber zu entscheiden, ob die Beschwerdeführerin die Kosten der Gutachtenerstellung nach § 109 SGG endgültig trägt. Bei der Entscheidung über die endgültige Kostentragung hat das Gericht vor allem zu berücksichtigen, ob das Gutachten für die gerichtliche Entscheidung Bedeutung gewonnen bzw. die Sachaufklärung objektiv in wesentlicher Weise gefördert hat, wobei dem SG ein Ermessensspielraum zusteht (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl. 2020, SGG, § 109 Rn. 16a, 18).
(5) Hinsichtlich der Frage, ob eine derartige Ermessensentscheidung im Rechtsmittelverfahren in vollem oder lediglich in beschränktem Umfang dahingehend zu überprüfen ist, ob sich das SG innerhalb des ihm eingeräumten Ermessensspielraums gehalten hat, d. h. ob ihm bei seiner Entscheidung ein Ermessensfehler unterlaufen ist, schließt sich der Senat nunmehr der erstgenannten Auffassung an, die sich mittlerweile in Rechtsprechung und Literatur im Wesentlichen durchgesetzt haben dürfte. Eine Legitimation für eine eingeschränkte Kontrolldichte lässt sich für die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen im Instanzenweg nicht finden, da erst- und zweitinstanzliches Gericht – anders als Behörde und Gericht – nicht Teile unterschiedlicher verfassungsrechtlich vorgegebener Gewalten sind und insofern kein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich, der eine Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte bei Ermessensentscheidungen begründen könnte, vorhanden ist (so überzeugend Bayerisches LSG vom 19. Dezember 2012 – L 15 S. 123/12 B – juris Rn. 19, mit weiterer Argumentation und umfassender Darstellung des Sach- und Streitstandes, a. a. O. Rn. 14 ff.; zustimmend u. a. Keller, a. a. O., § 109 Rn. 22 m. w. N.; LSG Sachsen-Anhalt vom 28. August 2018 – L 11 R 183/18 B – juris Rn. 12; Bayerisches LSG vom 21. November 2018 – L 20 KR 486/18 B – juris Rn. 22).
(6) Bei der Beurteilung der Frage, ob das Gutachten für die gerichtliche Entscheidung Bedeutung gewonnen oder die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat, ist es insbesondere auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts regelmäßig nicht ausreichend, dass ein Gutachten die Aufklärung des Sachverhalts objektiv überhaupt in irgendeiner Weise sinnvoll gefördert hat, denn diese Voraussetzung ist hier bei medizinischen Gutachten aufgrund der Relevanz sämtlicher medizinischer Erkenntnisse für die Entscheidungsfindung fast immer gegeben. Bedeutsam ist hierbei u. a., ob durch das Gutachten neue beweiserhebliche Gesichtspunkte zu Tage getreten sind oder die Beurteilung auf eine wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt worden ist (Bayerisches LSG vom 13. August 2013 – L 15 S. 153/13 B – juris Rn. 13).
(7) Nur eine wesentliche Förderung der Sachaufklärung oder Relevanz für die gerichtliche Entscheidung rechtfertigt eine Kostenübernahme. Dies setzt im Ausgangspunkt regelmäßig voraus, dass das Gutachten belastbare neue medizinische Aspekte erbracht hat bzw. dass die gutachtlichen Erwägungen des Sachverständigen einen für den Ausgang des Verfahrens relevanten beachtlichen Beitrag zur Sachaufklärung geleistet haben.
(8) Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass belastbare neue medizinische Aspekte in diesem Sinne nicht vorliegen, wenn Behauptungen oder Schlussfolgerungen des Sachverständigen letztlich weder durch den Ärztlichen Dienst des Beklagten noch durch ggf. weitere hierzu befragte neutrale Ärzte und Sachverständige oder durch die verfahrensabschließende gerichtliche Entscheidung mitgetragen werden. Derartige „neue“ Aspekte fördern die Sachaufklärung regelmäßig nicht, sondern erschweren vielmehr regelmäßig die Wahrheitsfindung.
(9) Die (Mit-)ursächlichkeit eines Gutachtens nach § 109 SGG für ein Angebot der Gegenseite führt nicht zwingend zu einer Kostenübernahme (LSG Nordrhein-Westfalen vom 22. November 2019 – L 13 S. 389/19 – juris Rn. 12). Einschränkungen bestehen insbesondere dann, wenn es sich lediglich um einen Teilerfolg von nur untergeordneter Bedeutung für den Kläger gehandelt hat (LSG Nordrhein-Westfalen vom 22. November 2019 – a. a. O. – juris Rn. 15 f.) oder wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Sachaufklärung von Amts wegen unzureichend gewesen ist, etwa weil eine maßgebliche Verschlimmerung erst ab einem Zeitpunkt angenommen worden ist, der nach Abschluss der Sachaufklärung von Amts wegen liegt (LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 2018 – L 13 S. 241/15 – juris Rn. 9 f.). Gleiches gilt, wenn der neue Erkenntnisgewinn auf einfachere Weise als durch ein Gutachten zu erlangen gewesen wäre, etwa wenn das Gutachten neu festgestellte oder bislang nicht hinreichend beachtete Funktionsstörungen in das Verfahren einführt, die bereits durch die bloße Konsultation eines niedergelassenen Arztes nebst nachfolgendem Befundbericht zum Verfahren hätten beigesteuert werden können. Denn im Rahmen der Ermessenserwägungen zur Kostenentscheidung im Rahmen des § 109 Abs. 1 S. 2 SGG ist nach Auffassung des Senats wie auch sonst bei Kostenentscheidungen stets mit zu berücksichtigen, ob dem das Verfahren betreibenden Kläger ein zumutbarer und kostengünstigerer Weg zur Verfügung gestanden hätte.
(10) Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat das SG Stade im Ergebnis zutreffend in seinem angefochtenen Beschluss die Übernahme der Kosten für das Gutachten der Sachverständigen Dr. G. vom 4. März 2019 auf die Landeskasse abgelehnt. Allerdings vermisst der Senat in den Gründen des angefochtenen Beschlusses die Abwägung des Umstandes, dass letztlich ein höherer GdB (nämlich ein solcher von 60) unter Berücksichtigung der Darlegungen der Sachverständigen Dr. G. aufgrund der Nervenschädigungen im rechten Bein festgestellt worden ist. Dies könnte dazu führen, dass die Übernahme der Kosten für das Sachverständigengutachten auf die Staatskasse gerechtfertigt wäre und ist im Rahmen der Ermessenserwägungen zu berücksichtigen. Im Ergebnis erachtet jedoch auch der Senat allein aufgrund dieses Aspekts die Kostenübernahme nicht für gerechtfertigt. Einerseits hätte die Feststellung der Peroneus- und Tibialislähmung verbunden mit einer erheblichen Überempfindlichkeit der verschmächtigten rechten Wade der Beschwerdeführerin auch im Rahmen gewöhnlicher ärztlicher Diagnostik und Behandlung getroffen werden können und bedurfte als solche keines Sachverständigengutachtens, wobei insoweit ggf. eingewandt werden könnte, dass aufgrund des bereits vorliegenden Sachverständigengutachtens des Chirurgen H. die ggf. höhere Überzeugungskraft eines weiteren Gutachtens erforderlich gewesen sein mag, um hier einen Teilerfolg auch effektiv zu erzielen. Insbesondere aber hat – wie bereits das SG Stade im angefochtenen Beschluss ausgeführt hat – das Gutachten nebst nachfolgendem Teilanerkenntnis nicht zur Erledigung des Rechtsstreits geführt. Vielmehr ist trotz der Einholung des Sachverständigengutachtens im Anschluss an das nachfolgende Teilanerkenntnis die streitige Entscheidung des Rechtsstreits in zwei Instanzen erforderlich geworden.
(11) Bei der Beurteilung der Frage, ob das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat, ist das gesamte Verfahren unter Einbeziehung des Berufungsverfahrens zu bewerten (Bayerisches LSG vom 13. August 2013 – a. a. O. – juris Rn. 14; Keller, a. a. O., § 109 Rn. 16a m. w. N.). Insoweit spricht gegen eine Wesentlichkeit der Förderung des Rechtsstreits der Umstand, dass der nach Einholung des unter dem 4. März 2019 erstatteten Gutachtens der Sachverständigen Dr. G. noch während des erstinstanzlichen Rechtszuges erzielte Teilerfolg nicht verhindert hat, dass die Beschwerdeführerin das Verfahren bis zur streitigen Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz fortgeführt hat. Dass aufgrund von seitens der Beschwerdeführerin eingelegten Rechtsbehelfen nach der Erzielung des Teilerfolgs noch zwei streitige gerichtliche Entscheidungen notwendig gewesen sind, spricht dafür, dass der Teilerfolg aufgrund des Teilanerkenntnisses lediglich von untergeordneter Bedeutung für die Beschwerdeführerin gewesen ist. Verstärkt wird diese Einschätzung durch den Umstand, dass es sich bei der Feststellung des GdB mit 50 oder 60 – dies ist Gegenstand des Teilerfolgs gewesen – nicht um einen besonders bedeutsamen Vorteil handelt, den die Beschwerdeführerin aufgrund des Teilanerkenntnisses erlangt hat.
(12-13) Die Kostenentscheidung …
Redaktionell überarbeitete Fassung
eingereicht von P. Becker, Kassel