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Haftung des Gutachters für unrichtiges Sachverständigengutachten

    Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 30.08.2018 – III ZR 363/17, NJW-RR 2018, 1364

    Der BGH hat die Revision einer Sachverständigen gegen eine Entscheidung des OLG Saarbrücken [1], der ein Urteil des LG Saarbrücken [2] vorangegangen war, zurückgewiesen.

    Der Kläger verlangt neben materiellem Schadensersatz auch ein Schmerzensgeld mit der Begründung, die Beklagte, von der Staatsanwaltschaft und der Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken bestellt, habe ein fehlerhaftes schriftliches aussagepsychologisches Gutachten erstellt und später in der Hauptverhandlung erläutert, das zu seiner strafrechtlichen Verurteilung und Inhaftierung geführt hätte.

    Zum Sachverhalt

    Der 1943 geborene Kläger, früher als technischer Bundeswehrbeamter beschäftigt, war durch Urteil einer Jugendkammer des Landgerichts Saarbrücken Ende Mai 2004 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Im Strafverfahren hatte die beklagte Sachverständige zunächst im Auftrag der Staatsanwaltschaft Saarbrücken ein schriftliches aussagepsychologisches Gutachten und in der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer ein mündliches Gutachten erstattet. In den Gutachten stufte die Beklagte die Angaben der Zeugin M. S., der Pflegetochter im Haushalt des Angeklagten und seiner Ehefrau mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft ein.

    Die in ihrer geistigen Entwicklung retardierte Zeugin war vor der Aufnahme in den Haushalt des Angeklagten im Zusammenhang mit Sexualverhalten aktenkundig geworden. Insoweit ist ein Vorfall mit 10½ Jahren dokumentiert, der sich mit einem fast 15-jährigen Jungen ereignete. Im Frühsommer 2002 wurde die Zeugin Opfer eines Missbrauchs durch einen Mitschüler geworden, der wegen dieser Tat verurteilt wurde.

    Der jetzige Kläger verbüßte von der dreijährigen Freiheitsstrafe insgesamt 683 Tage in verschiedenen Justizvollzugsanstalten. Hierbei stand er in der internen Sozialhierarchie jeweils auf unterster Stufe, sobald seine Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs in der Anstalt bekannt war. Er war vielfachen verbalen Angriffen ausgesetzt und es kam zu einer versuchten Körperverletzung. Der Kläger leidet noch unter Schlafstörungen und wird von Alpträumen heimgesucht. Er leidet an einem Tinnitus, der zu einem dauerhaften Rauschen im Ohr führt.

    Beide Instanzgerichte haben die Beklagte zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt und die Kausalität des Sachverständigengutachtens der Beklagten für die Verurteilung des Klägers ebenso bejaht wie die Frage, ob der Kläger bei Vorlage eines richtigen Gutachtens freigesprochen worden wäre. Die Frage, ob das von der beklagten Sachverständigen erstellte Gutachten als grob fahrlässig falsch zu bewerten war [3], haben die Instanzgerichte beantwortet: Ein Sachverständiger handelt grob fahrlässig, wenn er einen Umstand unbeachtet gelassen hat, der jedem Sachkundigen hätte einleuchten müssen, und seine Pflichtverletzung schlechthin unentschuldbar ist. Um diese Frage ging es bei der BGH-Entscheidung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr, sondern nur noch um Kausalitätsfragen.

    Ein fehlerhaftes Gutachten ist für den Schaden ursächlich, wenn die Entscheidung des Gerichtes auf dem Gutachten beruht. Das ist dann der Fall, wenn die gerichtliche Entscheidung die Schädigung der benachteiligten Partei bewirkt. Dazu muss das Gutachten mindestens mitursächlich für die Entscheidung des Gerichts geworden sein [4]. Es genügt, dass das Gutachten neben anderen Beweismitteln zur Überzeugungsbildung des Gerichtes beigetragen hat. Die Literatur verweist zutreffend darauf, dass im Sinne der Conditio sine-qua-non-Formel zu fragen ist, ob die gerichtliche Entscheidung ohne das unrichtige Gutachten genauso ausgefallen wäre [5]. Im Regressprozess ist folglich zu prüfen, wie nach Auffassung des nun entscheidenden Gerichtes der Vorprozess richtigerweise hätte entschieden werden müssen [6].

    All dies hat der BGH bejaht, für den klar war, dass der Kläger bei einem richtigen Gutachten der Beklagten freigesprochen worden wäre. Diesen Nachweis konnte der Kläger [7] dadurch führen, dass er im dritten Wiederaufnahmeverfahren am 07.11.2013 freigesprochen worden ist. Der BGH und das OLG Saarbrücken verdeutlichen in den seltenen Entscheidungen zur Sachverständigenhaftung, dass die mit der Beauftragung des Sachverständigen einhergehende hohe Verantwortung auch mit besonderen Haftungsrisiken verbunden ist. Der persönlich beauftragte Sachverständige haftet selbst, wenn die weiteren Voraussetzungen des § 839a BGB erfüllt sind. Dazu genügt nicht ein falsches Gutachten, hinzukommen muss vielmehr, dass das Verschulden des Sachverständigen und die Kausalität des falschen Gutachtens für die gerichtliche Entscheidung nachgewiesen werden kann. Und nicht zuletzt muss der Geschädigte den Rechtsweg tatsächlich ausgeschöpft haben.

    Die persönlich beauftragte Sachverständige ist passiv legitimiert

    Der BGH hat in seinem Beschluss zu Recht von einer weiteren Begründung abgesehen, ist doch die Entscheidung des OLG Saarbrücken zum Haftgrund mit besonderer Sorgfalt und Gründlichkeit erstellt worden. Darin ist zunächst festgestellt, dass die Beklagte passiv legitimiert ist, wurde sie doch zunächst von der Staatsanwaltschaft und sodann vom Gericht persönlich beauftragt, als Sachverständige für das Gericht ein Gutachten zu erstatten. Dadurch kam die Spezialregelung des § 839 BGB nicht zur Anwendung, der die Regelung des § 839a BGB verdrängt hätte. Die Erstattung des Gutachtens durch die Beklagte erfolgte nicht im Rahmen ihres öffentlich-rechtlichen Pflichtenkreises, nicht in Erfüllung der ihr obliegenden Dienstaufgaben, sondern als private Nebentätigkeit. Das OLG Saarbrücken stellt gerade dazu zutreffend fest:

    Ein Sachverständiger ist der Haftung nach § 839a BGB ausgesetzt, wenn er von einem Gericht in einem konkreten Verfahren bestellt worden ist... Im Zivilprozess erfolgt die Ernennung regelmäßig in Form eines Beweisbeschlusses (§§ 358, 358a Satz 2 Nr. 4, 359 ZPO), während sich das Strafgericht (§§ 72 ff. StPO) mit einer einfachen Beweisanordnung des Vorsitzenden begnügen kann (vgl. BGH NStZ 1982, 432).

    Die Qualität des Sachverständigengutachtens muss vom Gericht äußerst sorgfältig geprüft werden

    Die Auseinandersetzung des OLG Saarbrücken mit der Qualität des Gutachtens der Beklagten, die Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Gutachtens, ist bemerkenswert. In dieser Entscheidung ist dem Kläger, der einen beschwerlichen Weg bis zur Rehabilitation und zur Entschädigung gehen musste, jedenfalls zum Grunde seiner Ansprüche Gerechtigkeit widerfahren. Die nur selten anwendbare und angewandte Bestimmung des § 839a BGB trägt dem Umstand Rechnung, dass der Rückgriff auf den Sachverständigen für den in einem Rechtsstreit auf Grund eines falschen Sachverständigengutachtens Unterlegenen oft die einzige Möglichkeit ist, materielle Gerechtigkeit zu erlangen. Zwar wurde im Gesetzgebungsverfahren die Sorge geäußert, dass die Norm auch die Gefahr in sich birgt, dass rechtskräftig abgeschlossene Prozesse im Gewand des Sachverständigenhaftungsprozesses neu aufgerollt werden [8]. Als „Gefahr“ darf ein solches Verfahren jedoch nicht gesehen werden, geht es doch darum, dass Unrecht wiedergutgemacht werden soll, dass ein Verfahrensbeteiligter, dem schwerstes Unrecht widerfahren ist, nun Recht gewährt und er rehabilitiert werden soll.

    Voraussetzung für die Haftung der Sachverständigen ist ein objektiv unrichtiges Gutachten

    Die Beklagte ist gemäß § 839a BGB selbst persönlich verantwortlich [9]. Auf Grund der Beauftragung durch das Gericht haftet sie persönlich, weil sie persönlich im Rahmen ihrer privaten Nebentätigkeit schuldhaft ein objektiv unrichtiges Gutachten erstellt hat. Auch wenn das OLG anmerkt, dass das Merkmal der Unrichtigkeit im Sinne des § 839a Abs. 1 BGB sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der Gesetzesbegründung erschließt, wird im Schrifttum, entgegen der Ansicht des Gerichts, nicht daran gezweifelt, ob es überhaupt Fälle geben könne, in denen die Meinung eines Sachverständigen unvertretbar falsch sei, zumal es doch fast immer einen Kollegen gebe, „der – wenn auch nicht den größten, aber doch relativ großen Unsinn – als noch vertretbar bezeichnen wird“ [10]. Dieser Satz, der zwar in Rn. 418 bei Jaeger/Luckey steht, endet mit einem „?“ und in Rn 419 fahren die Autoren fort: „Es muss gelten, der Sachverständige muss immer dann haften, wenn sein Gutachten allgemein vertretenen Ansichten nicht entspricht. Dann ist das Gutachten objektiv falsch.“ Die „Richtigkeit“ ist an Hand der Aufgabe des Sachverständigen und der Funktion seines Gutachtens zu messen. Demnach stellt sich ein Gutachten auch nach Ansicht des Senats jedenfalls dann als unrichtig dar, wenn prozessuale und fachliche Standards nicht eingehalten sind.

    Nach einer weiteren Beweisaufnahme kommt der Senat zum Ergebnis, dass das Gutachten der Beklagten einen grundsätzlichen Fehler, einen Fehler im Berichtsteil und Fehler im schlussfolgernden Teil aufweist und damit unrichtig ist. Diese Fehler finden sich nicht nur in dem schriftlichen Gutachten, sondern sind auch in das vor der Jugendkammer erstattete mündliche Gutachten eingegangen, welches letztlich für die strafrechtliche Verurteilung des Klägers (mit-)ursächlich war.

    Auf Grund der dazu sehr eingehenden Ausführungen des Senats hat die Beklagte in der Zusammenfassung des Gutachtens erklärt, dass aus aussagepsychologischer Sicht dabei die Angaben der Zeugin S., dass ihr Pflegevater, der Kläger, sie an der Brust berührt habe (es folgen weitere Einzelheiten des sexuellen Übergriffe), mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft einzuschätzen sind.

    Die Kernaussage des Gutachtens, die Aussage der Zeugin sei mit „hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft“, war falsch

    In dieser Feststellung und der dazu gegebenen Begründung sieht der vom OLG Saarbrücken gehörte weitere Sachverständige einen grundsätzlichen Fehler in der Anwendung der aussagepsychologischen Logik. Er stellt weiter fest, dass der Beklagten im Berichtsteil des Gutachtens zahlreiche Fehler unterlaufen sind und dass der schlussfolgernde Teil des Gutachtens der Beklagten ebenfalls Mängel aufweist. All dies wird vom OLG Saarbrücken eingehend begründet.

    Das Gutachten des vom Senat eingeholten Gutachtens wird zusätzlich gemessen an Hand der grundlegenden Entscheidung des Bundesgerichtshofes [11], das in rechtspsychologischen und juristischen Fachkreisen wie auch in der Öffentlichkeit erhebliche Beachtung gefunden hat. Der BGH hat in dieser Entscheidung ausgeführt, das methodische Grundprinzip der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage bestehe darin, den zu überprüfenden Sachverhalt so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die zu beurteilende Aussage sei unwahr (sogenannte Nullhypothese). Zur Überprüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt. Mit dieser Hypothesenbildung soll überprüft werden, ob die im Einzelfall vorfindbare Aussagequalität durch sogenannte Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Die Nullhypothese sowie die in der Aussagebegutachtung im Wesentlichen verwendeten Elemente der Aussageanalyse (Qualität, Konstanz, Aussageverhalten), der Persönlichkeitsanalyse und der Fehlerquellen- bzw. der Motivationsanalyse sind gedankliche Arbeitsschritte zur Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Aussage. Sie sind nicht nur in einer Prüfungsstrategie anzuwenden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau [12].

    Einzelne Fehler der Sachverständigen in der Methodik

    Die Beklagte hat in allen Teilschritten der Begutachtung und Gutachtenabfassung Fehler gemacht. Erhebliche Fehler liegen nicht nur bei den Informationserhebungen, insbesondere der für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung zentralen Exploration der Pflegetochter, sondern auch bei den aussagepsychologischen Schlussfolgerungen vor. Das methodische Vorgehen der Beklagten bei ihrer Begutachtung vor Erstellung des schriftlichen Gutachtens (unter anderem bei der Exploration, der Berücksichtigung von Anknüpfungstatsachen und der Durchführung der Aussageanalyse) und die aussagepsychologischen Argumentationen (Schlussfolgerungen) der Beklagten sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Gutachten sind in hohem Maße fehlerbehaftet gewesen.

    Die Fehlerhaftigkeit der aussagepsychologischen Begutachtungen der Beklagten bei allen wichtigen Teilschritten berechtigt zu der Feststellung, dass die Beklagte grundlegende methodische Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen unbeachtet gelassen hat. Insbesondere die Notwendigkeit einer fachgerechten Exploration, die Ausgangspunkte der Unschuldsvermutung und der „Beweislast“, die dem wissenschaftlichen Konzept der Nullhypothese entsprechen, sowie die grundsätzlichen Qualitätsanforderungen von Transparenz und Nachvollziehbarkeit hätten jedem Sachkundigen einleuchten müssen.

    Schließlich hat das OLG Saarbrücken (zumindest) die grobe Fahrlässigkeit bejaht und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es für die Annahme grober Fahrlässigkeit des Sachverständigen nach § 839a BGB nicht darauf ankomme, dass die Unrichtigkeit des Gutachtens jedermann, auch den entscheidenden Richtern, hätte einleuchten müssen. Maßgebend ist insoweit vielmehr die Perspektive des Sachkundigen. Die vielfache Verletzung grundlegender methodischer Prinzipien bei der Durchführung eines Sachverständigenauftrags hat in der Tat derjenige zu verantworten, der sich als Sachverständiger ernennen lässt und tätig wird.

    Begriff des Verschuldens – grobe Fahrlässigkeit

    Die gravierenden methodischen Defizite der Gutachten sind schlechthin unentschuldbar. Der Billigung des Gutachtens der Beklagten durch die Richter der Großen Strafkammer im Strafverfahren schließt das grobe Verschulden der Sachverständigen generell nicht aus. Zusammenfassend stellt der Senat fest, dass die Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit zweifelsfrei gegeben sind. Die Beklagte hat in allen Teilschritten der Begutachtung und Gutachtenabfassung Fehler gemacht. Erhebliche Fehler liegen nicht nur bei den Informationserhebungen, insbesondere der für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung zentralen Exploration der Zeugin S., sondern auch bei den aussagepsychologischen Schlussfolgerungen. Das methodische Vorgehen der Beklagten bei ihrer Begutachtung vor Erstellung des schriftlichen Gutachtens und die aussagepsychologischen Argumentationen – Schlussfolgerungen – der Beklagten sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Gutachten seien in hohem Maße fehlerbehaftet [13].

    Mit all diesen tatrichterlichen Feststellungen hatte der BGH sich im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht zu befassen. Die tatsächlichen Feststellungen unterliegen nicht der Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Für den BGH ging es nur noch um Kausalitätsfragen, die er letztlich schon in den Leitsätzen beantwortet hat. Damit steht die Haftung der Beklagten für den materiellen und den immateriellen Schaden des Klägers dem Grunde nach fest.

    Begründung der Höhe des Schmerzensgeldes

    Auch mit der Höhe des Schmerzensgeldes hat der VI. Senat des BGH sich nicht befasst, aus zwei Gründen: Die Feststellung der Höhe des Schadens ist Sache des Tatrichters und nicht der Kläger, sondern (nur) die Beklagte hat die Nichtzulassungsbeschwerde beim Revisionsgericht eingelegt.

    Dennoch ist zu fragen, ob die Entscheidung des OLG Saarbrückens zur Höhe des Urteils vertretbar ausgefallen ist. Der Kläger ist im Strafverfahren durch die Beklagte, durch deren grob fahrlässig falsch erstelltes Gutachten, schwerst geschädigt worden. In diesem Zivilprozess hat der Kläger sich durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen, der seine Rechte leider nur unzureichend wahrgenommen hat. Das dem Kläger zugebilligte Schmerzensgeld ist nicht besonders hoch ausgefallen. Zwar kann man dem Anwalt erster und zweiter Instanz nicht unbedingt vorwerfen, dass er einen Schmerzensgeldbetrag von mindestens 80.000 € genannt hat, obwohl er damit dem Senat den Blick auf ein deutlich höheres Schmerzensgeld nicht geöffnet hat. Er hätte das Schmerzensgeld grundsätzlich in das Ermessen des Gerichts stellen sollen, um eine Kostenentscheidung nach § 92 ZPO zu erreichen. Dem Kläger wären dann 15 % der Kosten des Verfahrens nicht auferlegt worden.

    Man vermisst in den Entscheidungsgründen die Wiedergabe einiger neuerer Entscheidungen zur Höhe des Schmerzensgeldes bei Verletzung des Rechtsgutes Freiheit. Zwar gibt es nur wenige Entscheidungen zur Entschädigung für eine zu Unrecht verbüßte Freiheitsstrafe, für die ein Schädiger eintreten muss. Das Leid, das der Kläger erlitten hat, wiegt jedoch ungleich schwerer, als das Leid der Betroffenen in (fast) allen anderen veröffentlichten Entscheidungen.

    Kriterien zur Bemessung des Schmerzensgeldes

    Freiheitsentzug

    Zunächst sollte jedem bewusst sein, dass das Grundrecht Freiheit einen besonders hohen Stellenwert hat. Dazu hat das BVerfG [14] festgestellt, dass Art. 2 II 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet. Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichne das Freiheitsrecht als besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden dürfe. Geschützt werde die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Für die Verletzung dieses besonders hohen Rechtsgutes durch die Beklagte war der Kläger durch ein besonders hohes und angemessenes Schmerzensgeld zu entschädigen.

    In der Rechtsprechung sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen ein Schmerzensgeld schon dafür gewährt wird, dass der Einzelne eine (rechtmäßige) Haft in einer zu kleinen oder überbelegten Zelle oder zusammen mit einem Raucher verbringen muss. In diesen Fällen werden bereits bis zu 22 € je Tag zuerkannt [15]. Das ist genau ein Viertel des dem Kläger pauschal gewährten Schmerzensgeldes von 88 €/Tag. Wird z. B. die Sicherungsverwahrung rechtswidrig verlängert, stehen dem Betroffenen gemäß § 7 StrEG seit 2009 für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung 25 € zu. Vielfach erhält der Betroffene allerdings auch nur 500 €/Monat [16]. Diese Beträge werden seit langem als völlig unzureichend bezeichnet [17]. Gefordert werden 100 €/Tag. Eine über 25 €/Tag hinausgehende Entschädigung scheitert aber daran, dass die Entschädigung gewährt wird, ohne dass dem Inhaftierten ein Verantwortlicher für die Freiheitsentziehung haftet. Die Entschädigung nach § 7 StrEG ist nur deshalb nicht höher, weil der Staat nicht bereit ist, durch eine neue gesetzliche Regelung einen höheren Betrag aus Steuermitteln zur Verfügung zu stellen.

    Demgegenüber ist die Rechtsprechung großzügiger, wenn es um Schadensersatzansprüche gegen Schädiger geht, die die Freiheitsentziehung zu verantworten haben. Das LG München [18] entschädigte eine rechtswidrige Unterbringung eines kleinen Mädchens für ca. drei Wochen mit 500 €/Tag. Denselben Betrag erhielt ein Mann, der 50 Tage rechtswidrig in einer Psychiatrie mit Zwangsmedikation untergebracht war [19]. Weniger großzügig entschied das vom OLG Saarbrücken in den Entscheidungsgründen zitierte LG Marburg [20] allerdings vor mehr als 20 Jahren, das eine Entschädigung von nur 70 €/Tag für eine langjährige Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt gewährte. Rechnet man nur die Inflationsrate von rd. 40 % hinzu, würde der Entschädigungsbetrag heute bereits fast 100 €/Tag betragen und nicht, wie das OLG Saarbrücken rechnerisch unter Berufung auf Hacks meint, nur rd. 94 €/Tag. Vor mehr als zehn Jahren entschädigte das OLG Frankfurt [21] einen Mann, der auf Grund eines objektiv falschen anthropologischen Vergleichsgutachtens unschuldig zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, von der der Kläger sechs Jahre verbüßte. Die Entschädigung betrug 76 €/Tag, inflationsbereinigt also mehr als 90 €/Tag.

    Das OLG Saarbrücken erhöhte den Entschädigungsbetrag für den Kläger von 50.000 € auf 60.000 € und betont, dass eine taggenaue Entschädigung dem Kläger nicht gerecht werde. Dennoch geschieht dies, indem der Senat zur Begründung der Höhe des Schmerzensgeldes auf Vergleichsentscheidungen Bezug nimmt, in denen die Haftdauer für die Höhe der Entschädigung maßgebend war und er hinter den dort ausgeurteilten Beträgen sogar noch zurückbleibt. Der zuerkannte Schmerzensgeldbetrag von 60.000 € für 683 Tage Strafhaft entspricht einer Entschädigung von rd. 88 €/Tag. Nun listet der Senat über mehrere Seiten auf, was dem Kläger zudem an physischen und psychischen Schäden entstanden ist, die sämtlich bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden müssten, aber im Schmerzensgeldbetrag keinen Niederschlag gefunden haben.

    Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

    Man muss sich vor Augen führen, welche seelischen Qualen der Kläger in der Strafhaft als verurteilter Sexualstraftäter erlitt und dadurch zusätzlich erlitten hat, dass er zahlreiche Rechtsmittel in seiner Strafsache durchführen musste. Ferner überzog ihn die falsche Zeugin mit einem Zivilprozess, der neue Gutachten und damit neue Ängste auslöste. Der Kläger wurde mit 61 Jahren verurteilt und erst mit 71 Jahren voll rehabilitiert. Dieser Zeitraum ist mit allen Höhen und Tiefen zu berücksichtigen. Hinzu kommen die familiären Belastungen und sein sozialer Abstieg für fast zwei Drittel seines (statistisch) restlichen Lebens, über die das Urteil keine näheren Aussagen trifft.

    Liegt schon ein Schmerzensgeld in Höhe von 88 €/Tag alleine für die Freiheitsentziehung an der untersten Grenze (für die Entschädigung nach § 7 StrEG werden 100 €/Tag gefordert, obwohl niemanden ein Verschulden an der Inhaftierung trifft), so sind die über zehn Jahre laufenden Qualen des Klägers völlig unberücksichtigt geblieben. Im Zeitpunkt der Entscheidung des OLG Saarbrücken über die Höhe des Schmerzensgeldes war der Kläger rd. 74 Jahre alt. Geht man von einer restlichen (statistischen) Lebenserwartung des Klägers von sieben Jahren aus, stehen dem Kläger täglich weniger als 24 €/Tag zur Verfügung, im Monat also rd. 700 €. Das ist wahrlich keine angemessene Entschädigung für den Leidensweg von bis zu 13 Jahren. Zwar hat der Kläger zusätzlich zum Schmerzensgeld noch rd. 9.000 € Zinsen erhalten, mit denen er die anteiligen Prozesskosten bezahlen muss und auf die er bei früherer Entscheidung über seinen Schmerzensgeldantrag sicher gerne verzichtet hätte. Auf das Kapital erhält er derzeit und in der näheren Zukunft keine Zinsen, so dass ihm jedenfalls vorläufig nur 700 € monatlich zur Verfügung stehen.

    Fazit

    Soweit die beklagte Sachverständige zum Schadensersatz verurteilt wurde, ist das Urteil, was auch der BGH bestätigt hat, nicht zu beanstanden. Weil nur die Beklagte Revision eingelegt hat, hatte der BGH nur das Recht und die Pflicht, die Entscheidung auf Rechtsfehler zu Lasten der Beklagten zu prüfen. Die Höhe des Schmerzensgeldes konnte der BGH nicht ändern, dazu durfte er nicht einmal Stellung nehmen. Überhaupt ist die Bemessung des Schmerzensgeldes allein Sache des „Tatrichters“ und wird vom BGH normalerweise auch bei einer entsprechenden Rüge eines Klägers nicht geprüft.

    Dennoch ist das Schmerzensgeld hier falsch bemessen. Nichts hätte näher gelegen, als dem Kläger einen Betrag in mindestens der 2 ½-fachen Höhe zuzuerkennen, wenn sich das Gericht überhaupt mit der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld befasst hätte, so wie dies oben kursorisch geschehen ist. Dass dies nicht geschehen ist, liegt wohl unter anderem daran, dass der Senat mit der sehr schwierigen Entscheidung lange beschäftigt war und erst zum Schluss der Beratungen, als das Ergebnis (endlich) gefunden war, nun abschließend zu der offenbar nicht gründlich geprüften Frage der Höhe des Schmerzensgeldes eine Entscheidung treffen musste. In schwierigen und umfangreichen Verfahren ist immer wieder zu beobachten, dass die Höhe des Schmerzensgeldes in der Beratung der Richter zu kurz gekommen und die Entscheidung deshalb nicht „wohl überlegt“ ist.

     1 OLG Saarbrücken, Urt. v. 23.11.2017 – 4 U 26/15, unveröffentlicht.

     2 LG Saarbrücken, Urt. v. 29.01.2015 – 3 O 295/13, unveröffentlicht.

     3 Was der Kläger beweisen muss, Baumgärtel/Luckey, Handbuch der Beweislast, 4. Aufl. 2019, § 839a BGB Rdn 2.

     4 Soergel/Spickhoff, BGB § 839a Rn. 37; Palandt-Sprau, § 839a Rn. 4.

     5 Soergel/Spickhoff, BGB § 839a Rn. 37

     6 Jaeger, ZAP Fach 2, 441-456, 454.

     7 Zur Beweislast: Baumgärtel/Luckey, a.a.O., § 839a BGB Rdn 3.

     8 BR-Drucks. 742/01, S. 66; s. auch Reinert in Bamberger/Roth, BeckOK BGB Stand 15.06.2017 § 839a Rn. 4).

     9 MüKo/Wagner, 7. Aufl., BGB § 839a Rn. 35.

    10 Jaeger/Luckey, Das neue Schadensersatzrecht (2002), Rn. 418; Staudinger/Wöstmann, aaO Rn. 9.

    11 BGH, Urt. v. 30.07.1999 – 1StR 618/98, BGHSt 45, 164, 167 f.

    12 BGH, Beschl. v. 30.05.2000 – 1 StR 582/99, NStZ 2001, 45, 46.

    13 Wesentlich großzügiger das OLG Köln, Hinweisbeschl. V. 08.11.2017 und im Zurückweisungsbeschl. V. 20.12.2017 – 5 U 100/17, MedR 2018, 1012, referiert von Bergmann, der die Bestimmung des § 819a BGB äußerst restriktiv auslegen will und sogar fragt, ob nicht gefordert werden sollte, dass der Anspruchsteller im Haftungsprozess ein Privatgutachten vorlegt, um den Rechtsweg auszuschöpfen.

    14 BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16, MedR 2019, 45 ff., 48 mit Anm. Nenadic/Schmidt-Recla.

    15 OLG Schleswig, Urt. v. 19.06.2008 – 11 U 24/07, OLGR 2009, 373, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1308; OLG Hamm, Beschl. v. 13.06.2008 – 11 W 78/08, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1309.

    16 Vgl. z.B. LG Karlsruhe, Urt. v. 24.04.2012 – 2 O 330/11, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1319.

    17 Schellenberg, Präsident des DAV, fordert eine Entschädigung von 100 € pro Tag.

    18 LG München, Urt. v. 07.01.2009 – 9 O 2062/06, FamRZ 2009, 1629, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1312.

    19 OLG Karlsruhe, Urt. v. 12.11.2015 – 9 U 78/11, VersR 2016, 254 = MedR 2016, 445 = GesR 2016, 161, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1315.

    20 LG Marburg, Urt. v. 19.07.1995 – 5 O 33/90, VersR 1995, 1199 = NJW-RR 1996, 216, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1322.

    21 OLG Frankfurt, Urt. v. 02.10.2007 – 19 U 8/07, VersR 2008, 640, Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 9. Aufl. 2018, E1320.

    Anschrift des Verfassers

    Lothar Jaeger

    Vors. Richter am OLG Köln a.D.

    Mechtildisstraße 3

    50678 Köln