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LSG Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. Oktober 2021 – L 13 S. 375/19 – Schlagwörter: Honorar – Gutachten – Gerichtliche Festsetzung – kein Verschlechterungsverbot – Schwerbehindertenrecht

Leitsätze:

1. Die gerichtliche Festsetzung der Entschädigung für ein medizinisches Sachverständigengutachten ist keine Überprüfung der vom Kostenbeamten vorgenommenen Berechnung, sondern eine davon unabhängige erstmalige Festsetzung.

2. Ein Verschlechterungsverbot gilt daher im Rahmen der gerichtlichen Festsetzung nicht.

3. Die Vergütung von Gutachten des Schwerbehindertenrechts ist gesetzlich der Honorargruppe M 2 zugeordnet; Ermessen für eine anderweitige Zuordnung besteht nicht.

Aus den Gründen:

1. Die Zuständigkeit des Vorsitzenden für die Festsetzung der Entschädigung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 JVEG ergibt sich aus §§ 1 Abs. 5, 4 Abs. 7 Satz 1 HS 1 JVEG (vgl. hierzu auch Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 155 Rn. 9e).

2. Die vom Antragsteller zu fordernde Vergütung war endgültig auf 2.621,90 EUR festzusetzen. Die gerichtliche Festsetzung gemäß § 4 Abs. 1 JVEG stellt keine Überprüfung der vom Kostenbeamten vorgenommenen Berechnung dar, sondern ist eine davon unabhängige erstmalige Festsetzung. Bei der Kostenfestsetzung durch den Kostenbeamten handelt es sich um eine lediglich vorläufige Regelung, die durch den Antrag auf gerichtliche Kostenfestsetzung hinfällig wird. Angesichts dessen kann die vom Gericht festgesetzte Vergütung auch niedriger ausfallen, als sie zuvor der Kostenbeamte festgesetzt hat. Das sog. Verschlechterungsverbot (reformatio in peius) gilt somit im Rahmen der gerichtlichen Festsetzung nicht (zum Ganzen vgl. nur Bleutge, in: BeckOK Kostenrecht, § 4 JVEG Rn. 1 m. w. N.).

a) Soweit sich der Antragsteller gegen den von der Kostenbeamtin vorgenommenen Zeitansatz von vier Stunden für das Aktenstudium wendet, kann den erhobenen Einwänden nicht gefolgt werden. Die Kostenbeamtin hat der Festsetzung die vom Antragsteller in seiner Rechnung selbst angegebene Seitenzahl (400) zugrunde gelegt, in diesem Zusammenhang jedoch ebenso zutreffend darauf hingewiesen, dass nach ständiger - aktuellerer - Rechtsprechung des Landessozialgerichts NRW (und auch anderer Landessozialgerichte) für den Arbeitsschritt des Aktenstudiums und der vorbereitenden Arbeiten grundsätzlich ein Zeitanteil von einer Stunde für das Durcharbeiten von 100 Seiten mit medizinischen Daten durchsetztem Aktenmaterial in Ansatz zu bringen ist (vgl. z. B. LSG NRW v. 22.12.2015 - L 15 S. 217/15 B, v. 03.05.2013 - L 15 U 629/12 B und v. 06.05.2013 - L 15 S. 40/13 B; LSG Niedersachsen-Bremen v. 05.07.2021 - L 7 KO 3/20 [U]). Anhaltspunkte dafür, von diesem Grundsatz ausnahmsweise zu Gunsten des Antragstellers abzuweichen, liegen nicht vor, wobei zu berücksichtigen ist, dass nach der Rechtsprechung anderer LSG in besonderen Fällen sogar ein Rahmen von 150 bis 200 Seiten pro Stunde in Betracht kommen kann (Bayerisches LSG v. 11.07.2015 - L 15 180/13; LSG Baden-Württemberg v. 14.01.2014 - L 12 KO 4491/12 B).

b) aa) Die durchgeführte Testdiagnostik kann entgegen der vom Antragsteller vertretenen Auffassung nicht nach den Grundsätzen der GOÄ abgerechnet werden. Eine Erstattung besonderer Leistungen ist abschließend in § 10 JVEG geregelt. Nach § 10 Abs. 2 JVEG bemisst sich das Honorar für Leistungen der in Abschnitt O des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen (Anlage zur GOÄ) bezeichneten Art in entsprechender Anwendung dieses Gebührenverzeichnisses nach dem 1,3-fachen Gebührensatz. Die vom Antragsteller geltend gemachte Nr. 856 ist nicht im Abschnitt O der Anlage zur GOÄ enthalten. Die GOÄ findet wiederum nur in den im JVEG ausdrücklich normierten Fällen Anwendung (LSG Thüringen v. 09.11.2015 - L 6 JVEG 570/15). Eine entsprechende oder analoge Anwendung scheidet aus, da sie dem Wortlaut („soweit“) und dem Charakter des § 10 Abs. 2 JVEG als eng auszulegende Sondervorschrift widerspräche (zum Ganzen vgl. Hessisches LSG, Beschluss v. 08.08.2019 - L 2 S. 69/17 K).

bb) Allerdings ist eine Abrechnung nach Zeitaufwand möglich. Auf gerichtliche Nachfrage hat der Sachverständige angegeben, für 12 durchgeführte Testungen einen Zeitaufwand von 20 Minuten veranschlagt zu haben. Dieser Ansatz erscheint plausibel, so dass weitere vier Stunden à 75,00 EUR (Vergütungsgruppe M2), insgesamt also 300,00 EUR in Ansatz zu bringen waren.

c) Legt man den vom Antragsteller (nachträglich) berechneten Zeitanteil von 13,2 Stunden bei einer Normseite von 1.400 Anschlägen für Diktat und Korrektur (vgl. hierzu LSG NRW v. 03.12.2020 - L 15 R 628/20 B, juris Rn. 14) zugrunde, ergibt sich nach § 8 Abs. 2 JVEG ein zusätzlich zu vergütender Betrag von 262,50 EUR (3 x 75,00 EUR + 37,50 EUR).

d) Angesichts des Umstandes, dass die Vergütung für die Erstattung von Gutachten nach dem SGB IX vom Gesetzgeber ausdrücklich der Honorargruppe M2 zugeordnet wird, kommt eine Abrechnung nach der Honorargruppe M 3 nicht in Betracht (LSG NRW v. 02.10.2019 - L 15 S. 285/19 B, juris Rn. 4). Ein Ermessen zur anderweitigen Zuordnung besteht nicht (zur Entstehungsgeschichte vgl. auch BT-Drs 15/1971, 182; SG Aachen, Beschluss v. 09.07.2019 - S 18 S. 1141/17, juris Rn. 38). Dies folgt unmittelbar aus § 9 Abs. 1 S. 2, 3 in Verbindung mit Anlage 1 Teil 2 des JEVG in der hier anwendbaren, bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, dass die AWMF-Leitlinie-Schmerzbegutachtung gestützt auf ältere Rechtsprechung davon ausgeht, dass interdisziplinäre Begutachtungen von chronischen Schmerzen „des Öfteren, aber nicht grundsätzlich, Gutachten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad (M3)“ entsprechen.

e) Die vom Antragsteller geltend gemachten Kosten für Ausdruck und Durchschriften des Gutachtens können mangels Rechtsgrundlage nicht abgerechnet werden. Die in § 7 Abs. 2 JVEG geregelte Pauschale wird nur für Kopien und Ausdrucke aus Behörden- und Gerichtsakten gewährt, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Vorbereitung oder Bearbeitung der Angelegenheit geboten war, sowie für Kopien und zusätzliche Ausdrucke, die nach Aufforderung durch die heranziehende Stelle angefertigt worden sind (Satz 3 - vgl. hierzu SG Aachen v. 09.07.2019 - S 18 S. 1141/17, juris Rn. 41 m. w. N.). Diese Voraussetzungen sind ersichtlich nicht erfüllt. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass das Gutachten ausweislich des Anschreibens zur Beweisanordnung vom 08.08.2020 (Seite 3 letzter Absatz) lediglich in einfacher Ausfertigung einzureichen war und somit unaufgefordert eingereichte Mehrfachfertigungen nach Maßgabe der vorbezeichneten Voraussetzungen nicht erstattungsfähig sind (vgl. nur SG Aachen v. 09.07.2019 - S 18 S. 1141/17, juris Rn. 42; Bleutge, in: BeckOK Kostenrecht, § 7 JVEG Rn. 27, jeweils m. w. N.). Auch wenn die Kostenbeamtin Kosten für Ausdruck und Kopien jedenfalls teilweise berücksichtigt hat, kann in der nachträglichen Nichtberücksichtigung von vornherein kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot liegen (vgl. die Ausführungen unter 2.).

f) Dass der Antragsteller mitgeteilt hat, keine Blutentnahme durchgeführt zu haben, ist dieser Posten in Höhe von 9,00 EUR abzuziehen.

g) Insgesamt ergibt sich damit eine Vergütung in Höhe von 2.621,90 EUR, die sich wie folgt zusammensetzt:

Redaktionell überarbeitete Fassung
eingereicht von P. Becker, Kassel