Auch wenn bei der Begutachtung einer psychischen Erkrankung eine Aggravation festgestellt wird, kann der Sachverständige dennoch begründet zu dem Ergebnis kommen, dass die Erkrankung so schwerwiegend ist, dass von Berufsunfähigkeit im Sinne der (privaten) Berufsunfähigkeitsversicherung auszugehen ist. Das geht aus einem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt/Main vom 21.11.2017 (AZ: 14 U 13/17) hervor, über das die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ berichtet.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) kann bei einer Krankheit, die gerade durch das Fehlen naturwissenschaftlich gewonnener Untersuchungsbefunde charakterisiert wird, der ärztliche Nachweis der Erkrankung auch dadurch geführt werden, dass der Arzt seine Diagnose auf die Beschwerdeschilderung des Patienten stützt.
Zwar genügt es nicht, auf ärztliche Zeugnisse Bezug zu nehmen, die nur Angaben des Versicherungsnehmers referieren und daraus einen diagnostischen, klassifikatorischen Schluss zu ziehen; vielmehr müssen alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft werden. Wenn dann aber im Rahmen eines psychiatrischen Gutachtens mit dem in der Psychiatrie höchstmöglichen Grad von Gewissheit das Vorliegen einer Erkrankung bejaht wird, muss der erforderliche Vollbeweis als geführt angesehen werden, weil anderenfalls im Streitfall der Nachweis gar nicht geführt werden könnte, erklären die Frankfurter Richter.
Der medizinische Sachverständige darf seine Einschätzungen – v. a. bei gegen diese erhobenen Einwänden – allerdings nicht unbesehen (als „nachvollziehbar und überzeugend“) übernehmen. Dabei gilt es vorab zwischen (subjektiven) Beschwerdeschilderungen und (objektiven) Befunden zu unterscheiden, so das OLG. Ein Befund kann sich dabei auch aus einer validen Beschwerdeschilderung ergeben.
Im Rechtsstreit muss sich ein Gericht damit – ggf. nach Erläuterung, Ergänzung oder Gegenüberstellung mit privaten Gutachtern – auseinandersetzen und sich selbst eine Auffassung bilden.
Im vorliegenden Fall waren die Ausführungen des medizinischen Sachverständigen für das Gericht nachvollziehbar und überzeugend. So hat er bestätigt, dass bei dem Kläger nicht nur eine krankheitsbedingte stärkere negative Darstellung seiner Beschwerden vorliege, sondern darüber hinaus eine Aggravation, die nicht mit seinem Krankheitsbild erklärbar sei. Weiter hat der Sachverständige dargelegt, dass er – mit Rücksicht auf die Auffälligkeiten im Rahmen der testdiagnostischen Untersuchung – in diagnostischer Hinsicht nur in eingeschränkter Form auf die Beschwerdeschilderung Bezug nehmen könne und sich hauptsächlich auf objektive Rahmendaten wie Fremdbefunde und den objektiven klinischen Eindruck stützen müsse.
In seiner mündlichen Anhörung vor dem Senat hat der Sachverständige nochmals ausführlich und nachvollziehbar erläutert, dass er eine Simulation sicher ausschließen könne und sich der dargelegte psychopathologische Befund (und die hierauf basierende Diagnostik) aufgrund objektiver Kriterien ergebe, wobei die der Diagnose zugrunde gelegten Symptome nicht auf Angaben des Klägers, sondern auf eigenen Feststellungen anhand AMDP-Kriterien und (in eingeschränktem Umfang) auf Fremdbefunden beruhen.
Aufgrund dieser objektiven Befunde im Rahmen der ausführlichen zweitägigen Exploration hat der psychiatrisch-forensisch erfahrene Sachverständige auch unter Berücksichtigung der Aggravationstendenzen und unter Ausschluss nicht sicher von ihm selbst festzustellender Symptome wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen eine gesicherte Diagnose stellen können. Dabei hat sich der Senat davon überzeugen können, dass der Sachverständige, soweit er in seinem Gutachten überhaupt auf Fremdbefunde zurückgegriffen hat, die dort wiedergegebenen Beschwerdeschilderungen des Klägers für sein Gutachten nicht als feststehend übernommen hat, sondern diese einer kritischen sachlichen Würdigung unterzogen hat.
(Versicherungsrecht 69 (2018) 11: 660–665)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden