Alle 3 Komplikationen traten laut der Studie in Nature Medicine (2021; DOI: 10.1038/s41591-021-01556-7) nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 deutlich häufiger auf.
Die SCCS wurde zur Überprüfung der Sicherheit von Impfstoffen entwickelt. Sie vergleicht die ersten Wochen nach einer Impfung mit zufällig gewählten anderen Zeitpunkten im Leben derselben Personen. Die SCCS vermeidet damit alle Verzerrungen, die sich bei epidemiologischen Studien ergeben können, die verschiedene Personengruppen miteinander vergleichen.
Die elektronische Speicherung der Patientendaten ermöglicht die Analyse hoher Fallzahlen, was die Erkennung von seltenen Nebenwirkungen erleichtert. Ein Team um Julia Hippisley-Cox vom Nuffield Department of Primary Health Care Sciences in Oxford analysierte zunächst die Daten von 32,5 Mio. Engländern, die ihre 1. Dosis von BNT162b2 oder AZD1222 vor den 31. Mai 2021 erhalten hatten.
Für akute demyelinisierende Ereignisse im Zentralnervensystem (etwa ein Schub der Multiplen Sklerose) wurde kein Signal gefunden. Auch entzündliche Erkrankungen (Enzephalitis, Meningitis und Myelitis) traten im 1. Monat nach der Impfung nicht signifikant häufiger auf.
Eine deutliche Zunahme der beiden Erkrankungsgruppen wurde dagegen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 registriert: Hippisley-Cox ermittelt für den Tag eines positiven SARS-CoV-2-Tests ein fast 20-fach erhöhtes Risiko auf ein akutes demyelinisierendes Ereignis (relative Inzidenzrate IRR 19,34; 95-%-Konfidenzintervall 8,63 bis 43,38) und ein fast 40-fach erhöhtes Risiko auf eine entzündliche Erkrankung des Gehirns (IRR 38,57; 23,41-63,56). Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann sich auch als Subarachnoidalblutung manifestieren (IRR 24,22; 14,50-40,45), auch wenn dies insgesamt seltene Ereignisse waren.
Nach der Impfung mit AZD1222 kam es zu einem Anstieg von Guillain-Barré-Syndromen, der im Zeitraum von 15 bis 21 Tagen am deutlichsten ausfiel (IRR; 2,90; 2,15-3,92). Auch eine Fazilialisparese wurde häufiger beobachtet (IRR 1,29; 1,08-1,56). Nach der Impfung mit BNT162b2 wurde kein Signal beobachtet.
Die beiden Komplikationen könnten auf ein „molecular mimicry“ zurückzuführen sein, bei dem das Immunsystem Antikörper gegen Bestandteile (Antigene) des Virus entwickelt, die zufälligerweise auch auf den Nervenscheiden des peripheren Nervensystems vorkommen. Bewiesen ist diese Hypothese nicht. Dass nur der Vektor-basierte Impfstoff AZD1222 betroffen ist, könnte auf eine Abwehrreaktion gegen die Adenoviren hindeuten, die als Vehikel für den Transport der Gene in die Zellen verwendet werden.
Es ist bekannt, dass die beiden Komplikationen auch nach anderen Virusinfektionen auftreten können. Es verwundert deshalb nicht, dass es auch nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu einem Guillain-Barré-Syndrom (IRR 33,37; 14,21-78.36 am Tag des positiven Tests) und zu einer Fazialisparese (IRR 33,23; 22,57-48,94) kam.
Nach der Gabe von BNT162b2 kam es zu einem Anstieg von hämorrhagischen Schlaganfällen (IRR 1,38; 1,12-1,71 für den Zeitraum von 15 bis 21 Tagen nach der Impfung). Für AZD1222 wurde kein Zusammenhang gefunden. Dieses Ergebnis ist überraschend, da hämorrhagische Schlaganfälle eine mögliche Folge der Impfstoff-induzierten thrombotischen Thrombozytopenie (VITT). Diese Komplikation wurden nach der Impfung mit AZD1222, nicht aber nach BNT162b2 beobachtet. Auch hier war das Risiko nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 deutlich höher (IRR 12,42; 7,73-19,95).
Die Analyse der 1,98 Mio. Schotten, die bis Ende Mai die 1. Impfdosis erhalten hatten, bestätigte die Ergebnisse.
Insgesamt sind die Komplikationen sehr selten. Hippisley-Cox schätzt, dass auf 10 Mio. Menschen, die mit AZD1222 geimpft wurden, 38 zusätzliche Fälle eines Guillain-Barré-Syndroms kommen gegenüber 145 zusätzlichen Fällen auf 10 Mio. nach einem positiven SARS-CoV-2-Test.
Links zum Thema:
Abstract der Studie in Nature Medicine
Pressemitteilung des Nuffield Department of Primary Health Care Sciences
aerzteblatt.de
SARS-CoV-2: Studie beschreibt breites Spektrum neurologischer Komplikationen
J&J-Coronaimpfung: FDA warnt vor erhöhtem Risiko für Guillain-Barré-Syndrom
COVID-19: Neurokognitive Einschränkungen können noch Monate nach akuter Erkrankung fortbestehen
Pressemitteilung © rme/aerzteblatt.de